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Aus dem Misthaufen gezogen

Predigt zu Philipper 3,4-14

Liebe Gemeinde

Das alte Leben zurücklassen;

noch einmal ganz neu beginnen;

Viele Menschen träumen von solch einem Neubeginn.

Manche Zeitschriften zeigen solche Vorher-Nachher-Bilder,

die Werbung arbeitet mit solchen Geschichten:

 

Vorher: pummelig und farblos 

Nachher: schlank und gestylt

 

Vorher: schüchtern und zurückhaltend

Nachher: selbstbewusst und mit Ausstrahlung.

 

Vorher: der Fußabtreter des Chefs

Nachher: selber Chef und erfolgreich (1)

 

Von einem radikalen und grundlegenden Neuanfang schreibt Paulus in unserem

heutigen Predigttext: Phil 3,4-14 

 

Wenn ein anderer meint, er könne sich aufs Fleisch verlassen, so könnte ich es viel mehr, 5 der ich am achten Tag beschnitten bin, aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, 6 nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen.

 

7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. 8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne 9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben. 10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, 11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

 

12 Nicht, dass ich's schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. 13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, 14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.

 

 

I

 

Paulus benutzt einen Ausdruck aus der Fäkalsprache,

um sein früheres Leben zu beschreiben.

„Ich erachte es für Dreck“

wörtlich: Ich erachte es für Kot, für Mist.

 

Dabei stand Paulus vorher durchaus auf der Gewinnerseite des Lebens,

und konnte einiges auf dem Konto des Erfolgs und des Ansehens verbuchen:

 

Er ist ein Jude aus dem Volk Israel vom Stamm Benjamin, 

ein Hebräer von Hebräern, am 8. Tag beschnitten, 

so wie es das jüdische Gesetz vorgibt.

Er gehört zu den Pharisäern, die sich sehr um die Auslegung der Bibel

und für Umsetzung der Gebote Gottes 

ins praktische Leben verdient machen.

 

Paulus trägt jüdische Ehrentitel,

gehört zu den geistigen und geistlichen Eliten seiner Zeit,

und ist stolz auf diese Herkunft und Bildung.

 

Er hat keine Veranlassung von einem anderen Leben zu träumen.

Alles läuft gut bei ihm.

 

Doch jetzt schreibt er davon,

dass er das alles für Dreck erachtet,

dass er nur noch Jesus Christus erkennen

und seinem Tode gleichgestaltet werden will

 

Jetzt will er vergessen, was dahinten ist

und dem „Siegespreis der himmlischen Berufung“ nachjagen.

 

Ist es das, was den christlichen Glauben ausmacht,

dass um Christi willen das alte, vergangene Leben nicht mehr zählt,

keinen Wert mehr hat und nur noch Dreck ist?

 

Wurden nicht gerade durch solch eine Vorstellung auch schon viele Christinnen 

und Christen unter Druck gesetzt und in Gewissenskonflikte gestürzt,

die solch eine radikale Lebensveränderung nicht vorweisen konnten?

 

Erinnert uns dies nicht eher an Sekten, die von ihren Mitgliedern einen harten Schnitt 

in ihrem Leben erwarten: Freunde, Familie, Hobbies zurücklassen,

stattdessen ein neues Leben im Kreis Gleichgesinnter leben?

 

Wir müssen genauer nachfragen:

Was genau ist schief gelaufen im früheren Leben des Paulus?

Wie sieht sein Leben vorher und nachher aus?

 

II

 

Paulus ist vorher der Eiferer und Fanatiker.

Für ihn steht genau fest, 

wer zum Volk Gottes dazugehören darf und wer nicht.

Für ihn gibt es klare Grenzen.

 

Die Heiden, die an Jesus als den Messias glauben,

lassen sich nicht beschneiden und halten die Speisevorschriften nicht ein.

Paulus trägt  dazu bei, dass diese Gemeinden aus Juden und Heiden, zerstört werden.

Er lässt die Gemeindeglieder verfolgen, gefangen nehmen und töten.

 

Es gehört zu den dunklen Kapiteln der Geschichte,

dass Menschen ihre "Heiligen Texte" so auslegen,

dass sie nicht in die Weite führen sondern in die Enge,

dass sie nicht Leben bringen sondern den Tod.

 

So sehr, dass bei vielen Menschen heute der Eindruck entsteht,

die Religionen überhaupt seien die Wurzel allen Übels.

 

Wir müssen deshalb fragen:

Wie lesen wir heute als Christinnen und Christen unsere Bibel,

das Alte und das Neue Testament?

 

Gerade dieser Text des Paulus wurde für die späteren Christen ein Beleg  dafür, 

dass mit dem Glauben an Jesus Christus

das Judesein generell nur noch auf den Misthaufen gehört.

 

Als im 4. Jh. das Christentum zur Staatsreligion wurde,

ist es die Kirche, die die biblischen Texte dazu benutzt,

um neue Mauern und neue Grenzen zu ziehen.

Die Juden werden aus vielen Städten vertrieben,

dürfen viele Berufe nicht ausüben, 

und werden als Christusmörder beschimpft

und eine unsägliche Geschichte zieht sich

durch all die Jahrhunderte.

 

Nirgendwo ist im NT aber davon die Rede,

dass die Juden ihr Judesein ablegen sollen.

Paulus selbst ist Zeit seines Lebens Jude geblieben 

und praktizierte seinen Glauben.

 

Als „Dreck“, als „Mist“ bezeichnet Paulus nicht den jüdischen Glauben, 

in dem er aufgewachsen ist,

sondern seinen Fanatismus und seine enge, radikale Sichtweise.

 

In unserem Briefabschnitt setzt sich Paulus 

eben mit solchen Irrlehrern auseinander, die festschreiben wollten,

dass sich auch die Heiden beschneiden müssen,

damit sie von Gott angenommen sind.

Auf dem Hintergrund seiner eigenen Biographie

kann er dazu nur sagen:

„Um Christi willen, das ist Mist!“

 

Rückblickend erkennt er:

Das, was ich für gelungen gehalten habe, worauf ich stolz war

ist in Wirklichkeit ein furchtbarer Irrweg gewesen.

Trotz all meines Eifers, habe ich das Gesetz Gottes gerade nicht erfüllt

sondern habe am Entscheidenden vorbei gelebt.

Ich bin blind gewesen für die Liebe Gottes,

die meinem Volk und allen Völkern Leben gibt.

 

Ich habe Gott selbst in ein Korsett gespannt

und damit das Leben, die Freiheit, die Freude erstickt.

 

Es gehört viel Mut dazu,

auf sein Leben zu blicken und ehrlich zu fragen:

Wo habe ich Mist gebaut?

Was gehört auf die Verlustseite?

Und was kann ich auf der Gewinnseite verbuchen?

 

Naheliegender ist es, eine schlimme Vergangenheit einfach zu verdrängen,

um sich den schmerzhaften Erfahrungen nicht stellen zu müssen.

 

Wo ziehen wir heute enge Grenzen zwischen Menschen,

zwischen denen, die dazu gehören und den anderen?

 

Nicht nur die Religionen können aus dem Ruder laufen, 

das  kann auf allen Gebieten des Lebens passieren.

 

Tunnelblick, Enge, Ausgrenzung finden wir überall.

Wer sich nicht anpasst und der Gruppennorm entspricht,

wird abgewertet und gemobbt.

 

Und welche Gesetze, mit denen ich mich selbst knechte und unfrei mache,

muss ich hinterfragen?

 

Brauche ich wirklich die Topfigur und den Karrieresprung zu meinem Glück?

Ist meine Zukunft wirklich verbaut, wenn ich den Hochschulabschluss nicht schaffe?

Bin ich als Mensch tatsächlich nichts mehr wert, wenn ich nicht mehr so viel 

oder gar nichts mehr leisten kann?

 

Was gibt mir meine eigene Würde und meinen eigenen Wert,

damit ich Menschen, die anders sind als ich, nicht abwerten und ausgrenzen muss

und dass ich von mir selber auch nicht klein denke,

weil ich einem vermeintlichten  Ideal nicht entspreche?

 

Paulus hat die Hilfe Gottes und die Hilfe anderer Menschen gebraucht,

bevor er fähig wird, einen neuen Anfang zu wagen.

 

III

 

Der Maßstab dessen, was Sinn und Erfüllung bringt,

dreht sich für Paulus um.

 

Die „überschwängliche Erkenntnis Jesu Christi“ 

bringt für ihn die Wende und die Befreiung.

 

Das Wort für erkennen meint in der Bibel nicht

ein theoretisches, oberflächliches Sehen.

 

Erkenntnis in der Bibel ist auf Beziehung und Begegnung hin angelegt.

Auch für die körperliche Liebe wird es gebraucht:

"Adam erkannte seine Frau und die ward schwanger",

heißt es auf den ersten Seiten der Bibel.

Liebe und Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen,

Ehrliches Interesse aneinander und gegenseitiges Verstehen,

ist der Weg, um festgefahrene Meinungen und Ideologien zu überwinden.

 

Erkennen, dass sich der andere genauso nach Zugehörigkeit 

nach Angenommensein sehnt wie ich selbst,

Erkennen, dass die andere genauso an ihren lieb gewordenen Traditionen

hängt wie ich selber auch, bereitet den Boden dafür,

dass sich Hass und Ablehnung in Menschenfreundlichkeit wandeln können.

 

Erkennen, dass Gott auch die Menschen wichtig nimmt und annimmt und liebt, 

die sich weder im Glauben noch im Leben auskennen, 

denen weder die Gottesdienstpraxis noch die Liturgie bekannt ist,

dass Gott sich gerade denen zuwendet, 

denen nichts gelingt oder die sich sogar schuldig machen.

dass Gott, der Vater, alle seine Kinder  voraussetzungs- und bedingungslos liebt, (2)

 

die Pummeligen und diejenigen, die nicht gestylt sind,

die Schüchternen, die sich nicht nach vorne trauen

und diejenigen, die nur Fußabtreter für andere sind.

Erkennen, dass Jesus Christus diese Liebe Gottes 

sichtbar und spürbar werden lässt -

 

Jesus, der nichts anderes will,

als Sinn und Ziel der Gebote Gottes den Menschen ins Herz zu schreiben

und gerade kein rigoroses Regelwerk zum Maßstab macht für Gottes Wohlgefallen.

 

Jesus, der nicht nach toten Buchstaben lebt,

sondern die Worte seiner jüdischen Bibel mit Geist und Leben füllt,

weil sie von dem Gott gegeben sind,

der die Menschen aus der Sklaverei in die Freiheit und zum Leben führt

 

Jesus, der auch am Sabbat einen Menschen heilt,

weil der Sabbat um des Menschen willen da ist - und nicht umgekehrt.

 

Ich erinnere mich an eine Predigt, die ich vor vielen Jahren einmal gehört habe.

Sinngemäß hat die Pfarrerin damals sehr temperamentvoll gesagt:

„Die Menschen, die im 3. Reich Juden versteckt haben,

die haben sich doch nicht an das Gebot gehalten: Du sollst nicht lügen.

Die haben doch gelogen, dass sich die Balken biegen,

um die Menschen in ihren Verstecken zu schützen“

 

Gerade so aber haben sie dem Willen Gottes entsprochen.

 

IV

 

Paulus erkennt, was ihn im Tiefsten trägt und hält,

wenn ihn sonst nichts mehr halten kann:

 

Nicht der Hass, nicht der Stolz, nicht die Gnadenlosigkeit und Abgrenzung

sondern die Liebe, die ihn menschlich werden lässt mit sich selbst und anderen,

eine Liebe, die stärker ist als alle seine Schuld,

und ihm am Tiefpunkt seiner Existenz zuspricht:

 

„Du darfst leben“ 

„Du darfst Mensch sein“ - nicht perfekt, nicht vollkommen,

aber erfüllt mit Geist und Leben und Freiheit und Freude.

 

Paulus begreift:

Ich brauche nichts im Griff haben.

Ich kann weder mein Leben noch mein Glauben absichern.

Ich bin nicht vollkommen und brauche es auch nicht sein.

Meine Erkenntnis von Gott kann immer nur ein kleines Bruchstück sein.

Ich lebe noch nicht im Himmel.

Ich lebe auf der Erde.

 

„Nicht, dass ich`s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei…

ich jage ihm aber nach, ob ich's wohl ergreifen könnte, 

weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“

 

Was Paulus bleibt,

ist das Vertrauen, „dass er ergriffen ist von Christus“

 

Weil da einer ist,

der ihn aus dem Misthaufen herausgezogen hat

und ihn ins Weite, ins Licht geführt hat

 

Weil da einer ist, der ihn hält,

wenn die Dämonen der Vergangenheit ihn verschlingen wollen.

 

Weil da einer ist, der ihn liebt,

wenn die Selbstzweifel und die Anklagen

ihn erdrücken wollen:

 

Was ist mit den Menschen, über die ich so viel Leid gebracht habe -

Werden auch sie Befreiung erfahren?

Darf ich die Vergangenheit tatsächlich dahinten lassen und nach vorne schauen?

 

Dazu hilft der Glaube,

dass der Mist des Lebens mich nicht zerstört

sondern dass ich jeden Tag neu anfangen darf.

 

Dazu hilft  die Gemeinschaft mit Jesus Christus

 

„Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung 

und die Gemeinschaft seiner Leiden 

und so seinem Tode gleich gestaltet werden“

 

Nicht weil ich das Leben nicht mehr aushalte 

und den Tod und das Martyrium herbeisehne,

sondern weil ich mit Jesus Christus verbunden bin auch dann, 

wenn mir Schweres widerfährt.

 

Weil dieselbe Kraft Gottes, die Jesus von den Toten auferweckt hat,

auch mir Kraft schenkt für mein Leben im Hier und Jetzt.

Weil dieselbe Kraft Gottes, 

„die aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will“

(nach Dietrich Bonhoeffer)

auch in meinem Leben wirksam wird.

 

Deshalb schaut Paulus nach vorne.

Deshalb stellt er sein Leben in den Dienst dieses Jesus 

und wendet sich eben jenen Heiden zu, die er einst verfolgt hat.

 

Die Schranken, die Mauern, alles was von Gott trennt, ist weggenommen

und soll nicht mehr von Menschen neu aufgerichtet werden.

Keine Abwertung. Keine Ausgrenzung soll es mehr geben untereinander.

 

Wir merken daran, was Gnade ist:

ein Geschenk Gottes.

Ein Geschenk der Freiheit.

Wie die Auferstehung der Toten in Christus. (3)

 

Amen

 

 

 

Literatur

1 „Vorher-Nachher-Idee“ von Dr. Sven Keppler Predigt vom 24.07.2016 am 9 So. n. Trinitatis in: 

https://predigten.evangelisch.de/predigt/der-vorher-nachher-effekt-predigt-zu-philipper-37-14-von-sven-keppler

 

2 Abschnitt formuliert nach: Pfarrerin Brigitte Janssens, Predigt am 01.08.2010 in: https://predigtforum.de/2010/07/27/aus-der-enge-in-die-weite/#predigt

 

3 Abschnitt formuliert nach: Marlies Haist, Predigtmeditation zum 9. Sonntag nach Trinitatis zu Phil 3,(4b-6)7-14 in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Zur Perikopenreihe I, Plus, Studium in Israel, Berlin 2018

 

Anregungen auch von: Jürgen Kegler, in: Calwer Predigthilfen, 2. Halbband Reihe II/2, S. 101-108, Calwer Verlag 1992

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