Der Weingärtner und die Reblaus
Predigt zu Johannes 15,1-8 am Sonntag Jubilate
151 Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. 2 Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. 3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. 4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. 8 Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.
(Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Ausgabe 2017)
I
Liebe Gemeinde,
Jubilate - Freut euch! Jubelt! ruft uns dieser Sonntag zu.
Steht dieser Aufruf nicht quer zu dem, was viele Menschen gerade empfinden?
Bedrohung - Angst - Unsicherheit
Wie wird unser Leben weitergehen?
Wie sollen wir diese Krise bewältigen?
Jubilate - Freut euch!
Sollen wir unsere Sorgen einfach überspielen und wegbügeln?
Die Krise klein reden: „Alles übertrieben!“
Doch wir spüren genau:
Das ist nicht gesund und kann nicht gemeint sein.
Verdrängte Sorgen und Ängste treiben in der Tiefe ihr Unwesen,
kosten viel Kraft und lähmen sinnvolles Handeln.
Jubilate - Freut euch!
Wir müssen tiefer graben.
Welches sind die Wurzeln, die uns nähren
und uns helfen, in dieser Krise zu bestehen?
Unser PT malt uns einen Weinstock vor Augen.
Nackt und erbärmlich steht er im Frühjahr da, der alte, knorrige Stock.
Seine Wurzeln graben sich tief in die Erde.
Hitze und Regeln, Hagel und Sturm musste er schon viele Male überstehen.
Und jedes Jahr kommt der Winzer mit seinem Messer.
„Solange Sie den Weinstock nicht von seinen Wurzeln abschneiden,
wird er alles verkraften, was Sie ihm mit der Schere antun“ (1)
heißt es in einer Schnittanleitung, die ich im Internet gefunden habe,
als ich mich ein wenig mit dem Thema vertraut gemacht habe.
Der größte Teil des Stocks landet auf dem Reisighaufen.
Wer im Frühjahr durch die Weinhänge geht, kann die Bündel am Wegrand liegen sehen.
und doch - wie viele Trauben trägt der Stock im Herbst!
Da stehen die prallen, süßen Früchte auf unseren Tischen.
Frischer Traubenmost wird angeboten,
in großen Fässern reift der Wein.
II
In der Bibel ist der Weinstock ein uraltes Bild aus der Liebessprache.
Gott hat Israel liebevoll als Weinstock gepflanzt, damit er wachse und gedeihe.
Mit ausdruckstarken Bildern beschreibt der 80. Psalm diesen Weinstock.
Seine Wurzeln füllen das Land,
die Berge sind mit seinen Schatten bedeckt
seine Ranken strecken sich bis zum Meer. (Psalm 80,9.10).
Als die Zeit der ersten Verliebtheit vorbei ist,
folgen Enttäuschungen, Vorwürfe, Zweifel.
Am Ende liegt der Weinstock verwüstet da:
„Es haben ihn zerwühlt die wilden Säue
und die Tiere des Feldes haben ihn abgeweidet.“ (Ps 80,14) (2)
Heiße Liebe und bittere Enttäuschung
kennzeichnen die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk,
unerschütterliches Vertrauen und nagender Zweifel,
das grauenvolle Gefühl der Gottverlassenheit und tiefste Verbundenheit.
Doch bei allen Höhen und Tiefen, die ist es gibt und gab, in ihrer Geschichte,
zieht sich das eine durch wie ein roter Faden:
Sie gehören zusammen trotz aller Krisen und Katastrophen.
Rebläuse, Grauschimmel und Mehltau setzen diesem Weinstock zu,
und er bleibt am Leben - bis heute!
Solch ein kraftvolles Bild voller Leidenschaft haben die ersten Leserinnen und Leser
des Johannesevangelium im Blick, als sie die Worte unseres PT hören.
Die Gemeinde, für die Johannes sein Evangelium schreibt, durchlebt eine tiefe Krise.
Ihr Glaube ist erschüttert und droht zu zerbrechen.
Mit wie vielen Hoffnungen sind sie nach der Auferstehung Jesu in die Welt gegangen,
mit wie viel Glauben und Mut.
Doch nun sieht es für sie so aus,
als seien sie selbst abgeschnitten vom Weinstock,
als hätte Jesus sie für immer verlassen.
Ist er tatsächlich der Messias, auf den wir alle unsere Hoffnungen setzten?
Dreht sich die Welt nicht weiter wie bisher?
Hart und grausam.
Voller Gewalt und Unrecht.
Voller Druck und Verfolgung.
Voller Katastrophen und Krankheiten.
III
"Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg.
Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt,
und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen."
Abgeschnitten, verdorrt, ausgebrannt, erschöpft,
die Erfahrungen vieler Menschen stecken in diesen Worten.
Aussortiert, was keinen Erfolg bringt -
eine alltägliche Erfahrung im Wirtschaftsleben:
Nur was, Profit bringt, bleibt bestehen.
Doch schneiden wir nicht manchmal auch die falschen Zweige ab
und spüren erst hinterher, dass wir die Wurzeln,
die uns nähren, gekappt haben?
Gleichzeitig denke ich wehmütig:
Wenn es doch so wäre, wie Jesus es beschreibt,
dass wir Menschen alle am guten Weinstock hängen
und die Nährstoffe bekommen, die wir brauchen,
damit wir unsere Gaben entfalten können,
damit wir Früchte bringen, die wohlschmeckend sind und nicht sauer aufstoßen:
Solidarität, Gerechtigkeit, Friede, Mitmenschlichkeit, Liebe…
Wenn es doch so wäre,
dass Gott, der Weingärtner, die verdorrten Reben abschneiden und verbrennen
und die Rebläuse, die den Stock aussaugen, entfernen würde.
Könnte dann die Welt nicht besser und friedlicher und gerechter werden?
Doch sofort höre ich die bange Frage aufklingen,
ob ich dann auch zu den fruchtlosen Reben gehöre,
die abgeschnitten und ins Feuer geworfen werden,
spüre ich doch immer wieder auch eigenes Versagen.
Bedrohlich, angsteinflößend kann dieses Bild wirken,
wenn es losgelöst vom Zusammenhang des Evangeliums verstanden wird.
IV
Unser PT versetzt uns zurück in die Zeit, in der Jesus Abschied nehmen muss
Bald wird er selber verdorren und ausgeliefert sein
der Gewalt und der Angst und den Schmerzen.
Bald wird es so aussehen, als hätten die Schädlinge nun endgültig
ihr Werk vollendet und den Weinstock samt Wurzeln und Reben aufgefressen und zerstört.
Doch dann hören die Menschen in ihrer eigenen, bedrängten Situation seine Worte:
„Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner“.
Ich bin der wahre Weinstock, denn mein Vater im Himmel gibt mich nicht auf,
genauso wenig wie er mein Volk aufgibt.
Er hat mich gepflanzt
Er steht auf meiner Seite.
Er hält zu mir.
Mein Vater im Himmel, der macht es,
dass ich Frucht bringe und dass ihr auch Frucht bringt,
trotz der Schädlinge, die euch im Pelz sitzen.
Mein Vater im Himmel, der lässt es nicht zu,
dass mich die Rebläuse für immer verderben.
Mein Vater im Himmel, der hat das letzte Wort,
nicht all die Mächte und Gewalten und Katastrophen,
die sich gebärden als seien sie euer Gott.
Erinnert euch doch:
Menschen haben mich getötet. Aber ich lebe.
Menschen haben mich zum Schweigen gebracht.
Aber ich rede zu euch, noch immer.
Meine Worte bleiben bei euch und geben Hoffnung und Kraft,
Mein Vater im Himmel ist der Weingärtner,
der sich liebevoll um euch kümmert
und sich um jeden von euch müht.
So wertvoll seid ihr für ihn.
V
„Ihr seid schon rein, um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe“
Ihr seid schon rein.
Nicht erst, wenn man Früchte sieht.
Er setzt viel früher an.
Er setzt gerade dort an, wo die Bedingungen nicht gut sind.
dort sucht er Kontakt. dort begegnet er den Menschen,
tröstet und ermutigt sie.
Dort wo ich merke:
Ich muss nicht Weinstock, nicht Gärtner sein
Dort wo ich aufhöre, mich heillos zu überfordern,
weil ich meine, ich müsste alles kontrollieren, alles im Griff haben,
dort spüre ich neue Kräfte und Früchte können wachsen.
Wir suchen oft außerhalb von uns selbst:
Hier ein Ratgeber, dort ein Rezept.
Hier eine Tablette, dort eine Diät.
Das alles kann wichtig sein.
Aber ohne die Nährstoffe der Wurzeln
sind Düngemittel, Rebschnitt und Schädlingsbekämpfung nutzlos.
Das alles macht erst Sinn,
wenn der Weinstock von innen raus mit den Wurzeln verbunden ist.
Deshalb ruft er ihnen zu:
„Bleibt in mir und ich in euch“
„Bleibt in meiner Liebe“, sagt er ihnen unmittelbar nach unserem Predigttext (V9)
Die Liebe ist die Grundlage unseres ganzen Seins und Wesens, die uns trägt.
Die Liebe ist die Wurzel, die uns nährt.
Die Liebe schafft das, dass Menschen anfangen, Gott zu vertrauen.
Die Liebe schafft das, dass Menschen die bedingungslose Zuwendung Gottes spüren
und Zugang finden zu den Wurzeln, die sie nähren.
„Und hätte ich der Liebe nicht, so wäre ich nichts“,
so der Apostel Paulus in seinem Hohelied der Liebe (1. Kor 13,1ff)
Er besingt diese innere Triebfeder,
die unser Miteinander erfüllter,
unsere Ängste kleiner,
unser Vertrauen größer
und unser Leben reicher macht.
In der Verbindung mit seiner Liebe sieht Jesus unser Leben.
Diese Wurzel ist da.
Sie ist Teil von uns - wie die Rebe Teil des Weinstocks ist.
VI
„Ohne mich könnt ihr nichts tun“ sagt Jesus deshalb.
In Zeiten großer Ohnmacht spüren wir vielleicht die Wahrheit dieser Worte am meisten:
Wie machtlos sind wir oft - obwohl wir doch so viel können.
Wie schmerzhaft wurde uns dies in den letzten Wochen bewusst.
Und zugleich höre ich den Widerspruch und den Protest:
Wir sollen und wollen doch auch selber etwas leisten,
ohne dass wir uns in dauernder Abhängigkeit fühlen.
Es ist ja nicht Gott, der die Kranken versorgt und die Impfstoffe entwickelt
und einkauft für Menschen in Quarantäne und die Familien versorgt.
Wir Menschen sind doch auch fähig, so viel zu leisten.
Ohne die Verbindung mit unseren Wurzeln spüren wir aber auch,
wie uns das Leben mit seinen Anforderungen auslaugen
und die Sorgen auffressen können.
Wurzeln, Weinstock und Reben aber sind eine Einheit.
Beide gehören zusammen.
Beide zusammen sind notwendig, damit Früchte wachsen.
Weil die Wurzel bleibt, dürfen wir unser Leben wagen und unsere Schritte gehen.
Losgehen und doch verbunden bleiben.
Selbstständig sein und doch gehalten.
Mutig und doch besonnen.
Und sogleich hören wir Jesus deshalb auch rufen:
Ohne euch will ich nichts tun. (3)
Mit mir aber könnt ihr alles tun,
"werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren",
werdet ihr alle eure Anliegen vor mich bringen
und es wird geschehen, was meinem Willen entspricht,
werdet ihr eure Schritte gehen,
eure Füße, Hände bewegen,
euer Herz einander zuwenden,
werdet ihr Frucht bringen den Menschen zum Segen und Gott zur Ehre.
Deshalb: Jubilate! Freut euch!
Amen
_____
Literatur
(1) https://www.hausgarten.net/gartenpflege/gehoelzschnitt/verschnitt-von-weinreben.html
(2) Martin Bogdahn/Elisabeth Hann von Weyhern, Auslegung zu Johannes 15,1-8 in: Calwer Predigthilfen, Reihe 1/1 1996/97 Seite 217-226
(3) Ebd.
Klaus Wengst, Das Johannesevangelium, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Band 4, Verlag W. Kohlhammer 2019