"Könnte ich doch beten wie mein Hund"
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Predigt zu Lukas 18,1-8 Volkstrauertag 2022
18 1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis davon, dass man
allezeit beten und nicht nachlassen sollte, 2 und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. 3 Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam immer wieder zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! 4 Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue,
5 will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.
6 Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! 7 Sollte aber Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? 8 Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, wird er dann Glauben finden auf Erden?
(übersetzung nach Martin Luther,revidierte Ausgabe 2017)
I
Liebe Gemeinde,
„Oh könnte ich doch beten wie mein Hund“
Dieser Ausruf soll von Martin Luther stammen.
Als Hundebesitzerin kenne ich das so:
Sobald das Essen vorbereitet wird:
Unsere Hündin liegt in der Nähe,
lässt mich keinen Augenblick aus den Augen.
Es könnte ja ein Bissen runterfallen.
Sobald wir am Esstisch sitzen:
Sie sitzt daneben und hebt das Köpfchen.
Geduldig. Ausdauernd. Nicht nachlassend.
Sie weiß genau: Irgendwann kommt meine Chance.
Irgendwann können sie meinem süßen Blick nicht mehr widerstehen,
und ich bekomme einen Brocken ab.
Oh könnte ich doch so ausdauernd sein in meinem Gebet.
Könnte ich doch so hoffnungsvoll und gewiss sein:
Mein Beten geht nicht ins Leere.
Gott wird hören, retten, helfen, Recht schaffen auf unserer Welt.
Doch die Menschen für die Lukas sein Evangelium schreibt,
sind in einer Zerreißprobe.
Ihre Situation ist von Not, Verfolgung und Tod bestimmt.
Nach der Einnahme Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. wurde anstelle des Tempels ein
römisches Heerlager errichtet.
So als wäre Gottes Herrschaft durch die Herrschaft der römischen Kaiser abgelöst.
Krasser hätte man hier nicht demonstrieren können, wer jetzt der Herr war
und wem die Menschen zu gehorchen hatten.
Wie weit klaffen die Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Gerechtigkeit und die Realität, in der sie leben, auseinander.
In diesen Zusammenhang von Zweifel und Anfechtung
gehört das Gleichnis von der Bittenden Witwe.
Es ist eingebettet, in die Mahnung,
immerzu zu beten und Glauben zu haben.
Beten und Glauben ist hier nicht eine Aufforderung,
geduldig zu sein und sich still in sein Schicksal zu fügen,
sondern ist geradezu der Aufruf zur Ungeduld und zum Protest.
Der Wille Gottes soll nicht erst irgendwann in ungewisser Zukunft
sondern in Kürze, verwirklicht werden.
Bald muss dieser Frau geholfen werden, damit sie überleben kann.
Darum kämpft sie. Darum ringt sie.
Ihr Beten geschieht mit der gesamten Existenz.
Die Intensität, die im griech. Wort ausgedrückt wird,
wird auch für die Geburtswehen von Frauen benutzt.
Beten meint hier: mit aller Kraft schreien!
Nicht stumm bleiben, nicht resignieren, nicht lautlos dulden.
Aufstehen. Recht einfordern.
"Beten und das Tun des Gerechten gehören zusammen".
„Nur wer für die Juden schreit, kann auch gregorianisch singen“ -
sind markante Sätze von Dietrich Bonhoeffer.
II
Dabei könnte der Kontrast zwischen dieser Frau und dem Richter kaum größer sein.
„Witwe“ steht in der biblischen Tradition als Sinnbild für ein armes, schutzloses Dasein.
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Die Menschen finden sich wieder in diesem Gleichnis.
Sie stehen ganz unten und fühlen sich ausgeliefert.
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Der Richter hingegen hat es geschafft.
Er steht ganz oben in der Hierarchie.
Das Schicksal der Menschen ist abhängig von seinem Urteil.
Doch in dieser Konstellation tritt der ungünstigste alle Fälle ein:
Der Richter steht nicht nur ganz oben,
er ist auch noch ein fieser Kerl.
Er fühlt sich weder seinem Beruf noch der Mitmenschlichkeit
noch Gottes Willen verpflichtet.
Die Katastrophe für diese Frau scheint vorprogrammiert.
Alle Voraussetzungen für den Misserfolg des Bittens sind gegeben,
denn es ist ist sinnlos, an das Rechtsethos dieses Mannes zu appellieren.
Diese Witwe muss deshalb eine andere Methode einsetzen: ihre Zähigkeit.
Sie fällt diesem Menschen kräftig auf die Nerven.
Wenn er gerade Pause macht - sie steht bei ihm
Wenn er Feierabend hat - sie klopft an seine Tür
Wenn er einen wichtigen Termin hat - sie passt ihn wieder ab
Wenn er auf der Straße geht - sie läuft auf ihn zu
Und er wimmelt sie ab, immer und immer wieder.
Und sie steht da, immer und immer wieder,
nicht etwa demütig und unterwürfig. (1)
Nein, sie fordert ihr Recht ein, penetrant, aufdringlich, nervend.
„Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher“
Schaffe Recht -
Den Unterdrückten, Geschlagenen, Verfolgten, zu Unrecht Verurteilten,
Vertriebenen, Hungernden, Frierenden, Ausgebombten und Flüchtlingen.
Rücke die Verhältnisse zurecht auf unserer Welt.
Schaffe Recht und ziehe die Übeltäter zur Rechenschaft,
die andere tyrannisieren und fertig machen.
Die Liste der Menschen, die sich das ersehnen, ist unendlich lang.
Der Mut dieser Witwe, ihre Zähigkeit, ihr Gerechtigkeitssinn, ihr unbeugsamer Wille
soll die Menschen anstecken, sie herausreißen aus Trostlosigkeit und Resignation,
Ohnmacht und Anfechtung.
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III
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Es gibt einen Bericht darüber, wie die Bewohnerinnern eines Slums in Uruguay
durch die Beschäftigung mit diesem Gleichnis
aus ihrer Hoffnungslosigkeit gerissen worden sind.
Zwei Monate nach einer Bibelarbeit zu diesem Text
stellten sie sich spontan vor eine öffentliche Zeremonie der Stadtverwaltung,
erzählten von dieser Witwe und nannten ihre Forderungen.
Sie überrumpelten damit die Entscheidungsträger.
und erreichten tatsächlich, dass der ihnen schon lange
zugesagte Wasseranschluss für ihren Stadtteil endlich eingerichtet wurde.
Diese Frauen entdeckten ihre Stärke und Beharrlichkeit und ihren Glauben
an Gottes Gerechtigkeit, die sich durchsetzen soll. (2)
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Auch im biblischen Gleichnis geschieht, was nicht erwartet wurde:
Der Richter schwenkt tatsächlich um und verhilft der Frau zu ihrem Recht.
Nicht weil ihm das Gewissen schlägt - im Gegenteil
Wir haben keine sensible Seele vor uns, die sich selbst ständig hinterfragt
und von Skrupeln und Gewissensbissen geplagt wird.
Umso grotesker deshalb die Begründung für die Änderung seiner Haltung
„… nicht dass sie zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage“
Ein Richter, der weder Gott noch Menschen fürchtet, gibt einer Witwe klein bei,
weil er Sorge hat, sie könne ihm ins Gesicht schlagen?
Fast möchte man lachen über dieses Argument.
Er, der so viel Mächtigere, fürchtet die Ohrfeige einer Frau
und die öffentliche Bloßstellung!
Doch oft machen wir eine ganz andere Erfahrung:
Brutalität kennt keine Grenzen
Auf friedliche Demonstranten wird eingeprügelt.
Viele werden verhaftet.
Wie mutig sind die Menschen im Iran, die sich wehren gegen die Mullahs
Wie mutig sind die Menschen in Russland, in Nordkorea, China,
in Myanmar, in manchen Staaten Lateinamerikas,
die es noch wagen, sich aufzulehnen gegen ein totalitäres Regime
Wie mutig sind die Menschen in der Ukraine,
die nicht aufgeben, sich gegen das Unrecht, das ihnen geschieht zu wehren.
Wie mutig sind Menschen, die nicht schweigen
zu Mobbing, Ausgrenzung, Rassismus, Beleidigungen.
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Es ist als würde uns diese Geschichte auch zurufen:
So stark ist dieser Richter gar nicht wie er tut.
Sondern in Wirklichkeit, ein armes Bürschchen
So stark sind sie gar nicht die Diktatoren und Proleten,
die sich aufplustern als seien sie die Herren der Welt,
obwohl auch ihre Tage in Wirklichkeit gezählt sind.
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IV
Und doch - oft genug dauert es unerträglich lange,
bis sich ein Schicksal zum Guten wendet
Oft genug wendet es sich auch zum Bösen,
weil eine Situation immer unerträglicher wird.
Oft genug erschallen die Rufe solcher Witwen über Generationen hinweg
und der Glaube, die Zähigkeit, die Geduld brauchen einen langen Atem.
Menschen, die auch im Privaten Schweres erleben,
erscheint manchmal Gott selbst wie solch ein gnadenloser Richter,
dem das Schicksal seiner Menschen egal ist.
In einer jüdischen Geschichte wird einmal erzählt:
Bei den Nachbarn eines Rabbi sind mehrere Kinder nacheinander gestorben.
Die Mutter vertraut ihren Kummer der Frau des Rabbi an.
„Was für ein Gott ist denn der Gott Israels?
Er ist grausam und nicht barmherzig.
Er nimmt, was ER gegeben hat.“
„Du darfst nicht so reden“, sagt die Frau des Rabbi, „so darfst du nicht reden.
Die Wege des Himmels sind unergründlich.
Man muss lernen, sein Schicksal anzunehmen.“
In diesem Augenblick erscheint der Schriftgelehrte selbst auf der Türschwelle
und sagt der unglücklichen Mutter:
„Und ich sage dir, Frau, man muss es nicht annehmen!
Man muss sich nicht unterwerfen.
ich rate dir zu rufen, zu schreien, zu protestieren, Gerechtigkeit zu fordern:
Verstehst du mich, Frau? Man darf es nicht annehmen!“
Wie hätte diese Frau ihr Schicksal einfach so annehmen können!
Wie hätte sie dazu einfach Ja sagen können!
Wie entlastend ist stattdessen die Antwort des Rabbi:
Du musst Gott nichts vorspielen.
Du musst die Verzweiflung nicht verharmlosen.
Musst keinen heroischen Glauben beweisen.
Schreien darfst du und klagen!
Hiob, von dem wir in der Schriftlesung gehört haben,
hält nicht hinterm Berg mit seinen Gedanken und Gefühlen.
Er muss loswerden, was ihn bewegt.
Alles andere wäre nicht ehrlich sondern frommer Schein gewesen.
Alles andere hätte in der Resignation geendet.
Menschen, die resignieren, sagen nichts mehr. Sie schweigen.
Sie sind müde und ohne Antrieb.
Sie verdrängen, was inwendig gärt, oft suchen sie Ablenkung, Betäubung.
Doch man kann durch äußere Erlebnisse keinen inneren Mangel aufwiegen. (3)
V
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Oh könnte ich doch beten wie mein Hund -
und müsste dabei nicht nur brav unterm Tisch sitzen
sondern könnte aufspringen und jaulen und die Gewissheit finden:
Nein, niemals ist Gott vergleichbar mit diesem harten Richter,
der nur eine Nervensäge loshaben will.
Er hält mein Schreien und Rufen aus
und wendet mir sein ganzes Herz zu.
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Nein Gott, ist nicht wie dieser Richter.
Er wird Recht schaffen in Kürze.
Wir können diese Aussage nur im Zusammenhang mit Jesus selbst verstehen.
Kurz vor unserem Predigttext sagt Jesus seinen Zuhörern:
"Das Reich Gottes ist mitten unter euch."
Er hört das Schreien der Menschen und ihre Rufe nach Hilfe:
die Blinden am Wegrand, die Mutter, die um ihren Sohn trauert,
den Zöllner Zachhäus, der Gemeinschaft sucht, den Lahmen am Teich Bethesda,
der keinen Menschen hat, der ihm hilft.
Er kehrt bei den Menschen ein, lädt sie ein an seinen Tisch,
lässt sie nicht stumm unterm Tisch ausharren wie einen Hund.
Er hat Gemeinschaft mit ihnen, teilt mit ihnen ihr Leben.
spürt ihren Hunger nach Brot und nach Hoffnung.
Das gibt Mut. Das hilft, den Glauben nicht aufzugeben,
Jetzt, in diesem Moment spüren sie etwas von Gottes Hilfe.
Jetzt wird dieser Witwe zu ihrem Recht verholfen,
sei der Richter noch so menschenfeindlich.
Jetzt hat ein Mensch die Möglichkeit zu überleben.
In der Welt, in der wir leben, hat sich dadurch nicht viel geändert.
Die Römer damals sind noch lange da.
Die Kriege sind heute auch noch da.
Aber Gott ist auch da.
Er ist kein Zauberer, der plötzlich alles gut hext.
Er ist ein Gott, der sich tief in diese Welt und ihre Strukturen hinein verwickeln lässt.
Gott ist in diesem Jesus gegenwärtig,
teilt das Schicksal der Gequälten.
Mitten in unserer Welt steht das Kreuz,
werden Menschen getötet.
wachsen Hass und Feindschaft.
Mitten in unserer Welt steht Jesus auf von den Toten,
wachsen Friede und Freundschaft,
finden Menschen zueinander, versöhnen sich,
spüren Wärme und Lebendigkeit,
werden Trauernde getröstet, Obdachlose beherbergt,
Hungernde gespeist, Einsame besucht und Kranke gepflegt.
In solcher Gemeinschaft behalten wir Menschen die Hoffnung,
dass Gott Recht behält und nicht die Gewalttäter
In solcher Gemeinschaft feiern wir unsere Gottesdienste und erfahren:
Der Auferstandene sucht unseren Glauben
- und findet ihn mitten unter uns.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn.
Amen
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Literatur
Gedanken und Formulierungen dieser Predigt sind aus folgenden Veröffentlichungen
(1) Claudia Janssen, Rechnet ihr noch mit Gott? in: Gott ist anders, Gleichnisse neu gelesen,
hg. Marlene Crüsemann, Claudia Janssen, Ulrike Metternich, Gütersloh 2014, S.250-261
(2) Annette Merz, Die Stärke der Schwachen in: Kompendium der Gleichnisse Jesu, hg. Ruben Zimmermann, Gütersloh 2. Aufl. 2015, S.667-679
(3) Eva Meinecke, Auslegung zu Lukas 18,1-8 in: Calwer Predigthilfen Reihe V/2, Calwer Verlag Stuttgart 1995, S. 208-215