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Eine kleine Weile

Predigt zu Joh 16,16-23

16 Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. 17 Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? 18 Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet.

19 Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? 20 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. 21 Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. 22 Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. 23 Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. 

 

(Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Ausgabe 1984)

 

Liebe Gemeinde,

 

Sonntag Jubilate:  Freut euch! Jubelt! Jauchzt!

 

Und ich merke: Das möchte ich, ein jubelndes, jauchzendes Herz.

 

Wir erinnern uns vielleicht an solche Freude, 

die unser Herz zum Jubeln brachte:

Wenn nach vielem Lernen die Prüfung endlich bestanden ist!

Welche Entlastung! Welch ein Grund zum Feiern!

Wenn es funkt zwischen zwei Menschen 

und sie ihrer Liebe zueinander gewiss werden!

Freude, von der man sich wünscht, sie würde nie vergehen!

Wenn nach großer Angst eine schwere Operation gut ausgegangen ist 

und der Arzt sagt: „Sie werden wieder ganz gesund“

Welch eine Freude! Das Leben wurde noch einmal geschenkt!

Wenn sich Menschen wiedersehen nach langer Zeit der Trennung.

An Bahnhöfen und Flughäfen können wir solche Begegnungen sehen,

die strahlenden Augen, manchmal mit Freudentränen darin

Oder wenn nach schmerzhaften Wehen ein Kind zur Welt gekommen ist!

Grund für tiefe Freude und Dankbarkeit!

„Euer Herz soll sich freuen und eure Freude soll niemand von euch nehmen“

„An jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen“

So die Verheißung Jesu, die er seinen Jüngern mitgibt.

 

Und ich merke: Auch das möchte ich:

Freude haben, die nichts und niemand von mir nehmen kann.

Freude haben, in der alle bedrängenden und bohrenden Fragen gelöst sind und mich nicht mehr quälen können.

 

Aber diese Worte stehen erst am Ende unseres Predigttextes.

Vorher sagt Jesus noch etwas anderes zu seinen Jüngern:

 

Er sagt: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen;

und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen“

Mit diesen Worten bereitet Jesus seine Jünger auf seinen Abschied vor. 

Sie werden ihn eine Weile nicht mehr sehen. 

Bald muss er leiden und sterben. 

Und dann wird es nochmals eine kleine Weile dauern, bis er sie wiedersehen wird.

Am dritten Tag wird er auferstehen von den Toten.

 

Die Jünger rätseln, was er meint.

Sie verstehen nicht, wieso das so sein wird.

Vielleicht suchen sie ein Konzept,

eine Erklärung, die in ihre Vorstellungen passt, eine Lösungsstrategie.

Sie hätten sich vermutlich auch die immerwährende Freude an seiner Seite gewünscht,

das Miteinandersein ohne Trennung, ohne Abschied, ohne Tod.

Noch können sie diesen Weg nicht verstehen.

 

Jesus redet mit seinen Jüngern, 

fast wie Eltern das mit ihren Kindern tun:

Papa und Mama gehen bald weg, 

aber sie kommen auch bald wieder.

Und im Ohr klingt die Rückfrage der Kinder:

Wie lange dauert eine kleine Weile?

 

Eine kleine Weile kann furchtbar lang sein,

wenn das Kind Angst bekommt und sich alleine fühlt,

Manchmal dauern die „kleinen Weilen“ in unserem Leben unerträglich lange:

wenn der Abschied von einem geliebten Menschen,

das Leben zerbricht und nichts mehr so war wie vorher

und sich kein Trost einstellen will.

 

Jesus sagt zu seinen Jüngern nicht:

Ihr müsst keine Angst haben, 

wenn ich nicht mehr da bin.

Habt eine schöne Zeit miteinander, 

bis ich euch wiedersehe.

Im Gegenteil, er sagt:

„Ihr werdet weinen und klagen.“

 

Er sagt nicht:

Es gibt keinen Grund, traurig zu sein.

Er sagt: Ihr habt nun Traurigkeit

 

Er sagt nicht:

Hört auf mit euren Fragen.

Das hat keinen Sinn

Im Gegenteil: 

Er nimmt sich ihrer Fragen an, 

ist barmherzig mit ihrem Nichtverstehen.

Wie sollten sie auch verstehen und begreifen können,

was so weit weg ist, jenseits aller ihrer Erfahrung

und Vorstellungskraft?

Wie sollten sie auch verstehen, dass Er,

bei dem sie gespürt haben:

Gottes Nähe leuchtet auf durch ihn - wie sollten sie verstehen -

dass gerade Er so grausam sterben muss?

Jesus kann ihre  Fragen nicht theoretisch beantworten. Er bereitet sie darauf vor, 

dass sie diesen Abschied durchleben und durchleiden müssen.

 

Er wird sie an die Grenzen

der Belastbarkeit bringen.

Der Boden wird ihnen unter den Füßen weggezogen,

als derjenige, auf den sie alle ihre Hoffnungen gesetzt haben,

am Kreuz hoch gezogen wird.

Wir leben nach Ostern - und dennoch

auch immer wieder so wie zwischen Karfreitag und Ostern.

Die Menschen in der Gemeinde damals, 

für die Johannes sein Evangelium schreibt, 

waren in eine bedrückende Realität gestellt, 

die sie bestehen mussten, 

ohne Jesus, wie es so oft schien.

„Ihr werdet weinen und klagen, 

und die Welt wird sich freuen“

Passgenau treffen diese Worte auch heute.

 

Gott sei die Not der vielen  Menschen geklagt, 

für die es keine Zukunft und keine Freude mehr zu geben scheint,

wenn ihr persönliches Leben zusammenbricht.

Gott seien all die Kriege geklagt 

und all die Opfer von Terror, Gewalt und Folter!

 

Es gibt Menschen, die sich freuen, 

wenn andere sterben. 

Es gibt Menschen, die sich freuen, 

wenn sie zerstören und töten können. 

Es gibt Schadenfreude und Missgunst und Neid,

die das Miteinander vergiften.

 

Das, was unsere äußeren Augen oft sehen, 

scheint nicht auf neues Leben hinauszulaufen.

Das was unsere äußeren Augen sehen, 

scheint die Gewalttätigen dieser Welt 

ins Recht zu setzen.

Wir sehen all das, 

was uns in unseren persönlichen Krisen

in die Knie zwingen will.

Wir sehen Gott ohnmächtig, schwach auf der Verliererseite

in diesem Kreuz des Jesus von Nazareth.

 

„Ihr werdet weinen und klagen“

Wie nüchtern und realistisch sieht Jesus unser Leben.

Und wie sehr tröstet es, 

dass er das Schwere nicht ausklammert,

nicht einfach wegbügelt sondern sieht und ernst nimmt.

Er gesteht uns die Traurigkeit und das Weinen zu.

Wir müssen uns nicht zur Freude zwingen können.

Schon das kann entlasten.

Nicht von ungefähr sind die Passionen Johann Sebastian Bachs, 

die wir in der Passionszeit 

immer wieder zu Gehör bekommen, 

so berührend und werden von vielen Menschen besucht. 

Diese Musik geht nahe, sie ergreift die Existenz. 

Wir werden mit Weinen und Leiden und Sterben Jesu konfrontiert. 

Wir werden in die Tiefe geführt und spüren: 

Wir kommen zu uns selbst und zu unseren eigenen Fragen und Nichtverstehen

und machen dabei die erstaunliche Erfahrung:

Mit den Trauernden weinen,  den Sterbenden begleiten, 

das Schwere durchleben

schafft den Boden für neues Leben und für neue Hoffnung. 

Vor der Tiefe nicht weglaufen, bereitet den Weg 

für neue und tiefere Freude.

 

Wenn wir diese Tiefen des Lebens verdrängen wollen, 

verlieren wir uns selbst in der Oberflächlichkeit und werden hart dabei.

Wenn wir diese Tiefen theoretisch erklären wollen,

weichen wir der Not aus, der eigenen oder der Not

die wir um uns herum sehen,

weil wir nicht alle Fragen und Probleme des Lebens lösen können.

Sie gehen mit uns.

Oft brauchen wir unsere ganze Kraft.

Manchmal sind wir gefordert bis ins Letze.

 

So wie die werdende Mutter bis ins Letzte gefordert ist.

 

„Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen,

denn ihre Stunde ist gekommen. 

Wenn sie aber das Kind geboren hat, 

denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen,

dass ein Mensch zur Welt gekommen ist“, 

so anschaulich beschreibt Jesus unser Leben.

 

Je näher die Geburt rückt, desto heftiger sind die Wehen.

Gewaltige Kräfte gehen durch den Körper.

Eine Geburt - ein Vorgang auf Leben und Tod,

 

Der Schmerz ist erst weg, wenn das Kind da ist, 

vorher nicht.

 

Vorher sehen wir das Baby noch nicht.

Vorher sehen wir die schwarz-weißen Konturen des Kindes  auf den Ultraschallbildern. 

Wir spüren seine Bewegungen. 

Es strampelt, der Platz wird enger.

Wenn das Baby aber auf der Welt ist, 

sieht es anders aus als auf den Bildern, 

sehen wir es, berühren es, fassen es an, 

nehmen wir das Wunder neuen Lebens 

in einer Intensität wahr wie vorher nicht.

 

Und wenn ich dann zurückblicke, merke ich:

In der Freude schmilzt diese „Weile“,

die so unerträglich lange gewesen ist, zusammen,

ist sie tatsächlich nur eine „kleine Weile“ gewesen,

fällt nicht mehr ins Gewicht.

 

Aber eine Geburt war damals auch

oft die Ursache für den Tod von Mutter und Kind.

Und schwanger sein bedeutet auch heute trotz Hightech-Medizin noch keinesfalls,

dass Mutter und Kind gesund bleiben.

 

Jesus aber lässt hier gar keinen Zweifel daran:

Das Kind wird zur Welt kommen und leben.

Die Möglichkeit einer Fehlgeburt zieht er rein gar nicht in Betracht.

Jesus eröffnet seinen Jüngern nur diese eine Möglichkeit

„Eure Traurigkeit soll zur Freude werden“

„Euer Herz soll sich freuen.“

 

In dieser Freude werden sie erkennen:

Es gibt kein Ostern ohne Karfreitag.

Aber es gilt eben auch das Umgekehrte.

Es gibt auch den Karfreitag nicht mehr ohne Ostern.

 

In der Tiefe des Leidens und Sterbens Jesu,

entspringt die Osterfreude.

Dort ist der Grund gelegt für die Freude, 

die niemand von ihnen nehmen kann.

 

Die Jünger werden durchleben, wie das ist, 

wenn sich ihre Traurigkeit in Freude wandelt.

Ihr Herz wird begreifen und sehen lernen,

was sie vorher nicht gesehen und verstanden haben:

Ihr Leid und ihre Not und sein furchtbares Sterben konnten nicht verhindern,

dass er sie wieder sieht.

Gott hat denjenigen, über dessen Tod die Welt sich gefreut hat,

wieder ins Leben gerufen.

 

Die Mächtigen dieser Welt, 

die sich freuen an Gewalt und Unheil sind von Gott ins Unrecht gesetzt.

Lüge und Neid und Schadenfreude, sind entlarvt als das, was sie sind:

Mächte, die vergehen

Der Tod, der sich gebärdet, als wäre er unser Gott, 

wird bloß gestellt.

 

Und wenn die „kleine Weile“ 

wieder einmal unerträglich lange wird,

kann nichts und niemand mehr verhindern,

dass wir in seinem Blick und mit ihm verbunden sind,

dass er uns sieht, schon lange bevor wir ihn sehen,

 

Darin liegt die Freude begründet,

von der Jesus spricht.

Sie liegt tiefer als die kurzfristige Freude,

die im Auf und Ab des Lebens wieder verschwindet.

Sie liegt aber auch tiefer als all das,

was uns zerstören und von ihm trennen will.

Sie liegt darin, dass nichts und niemand verhindern kann, dass wir mit dem verbunden sind, der das Leben ist.

 

Daran hängt das ganze Sein und Wesen unseres Glaubens.

Jubilate! Jauchzt! ruft uns der Sonntag zu.

 

Seit Ostern sind wir sozusagen alle „guter Hoffnung“

dass „etwas unterwegs“ ist,

dass Einer unterwegs ist zu uns.

 

Auf diese Weise bekommt auch all unsere menschliche

und irdische Freude einen besonderen Stellenwert:

die stille Freude, wenn ich entdecke, 

dass es da Leben doch wieder gut mit mir gemeint hat,

die tiefe Freude über das Wiedersehen mit einem geliebten Menschen,

der laute Jubel über das bestandene Examen.

 

Auch dadurch zeigt Gott,

dass er es gut meint mit uns und uns irdische Freude schenkt,

die wir von Herzen annehmen dürfen.

Alle kurzfristigen Freuden bleiben dann nicht oberflächlich sondern wir erkennen:

Auch darin stärkt er uns in der Gewissheit, dass er „unterwegs“ zu uns ist.

 

Und in all diesen „kleinen Weilen“,

die manchmal so unerträglich lange dauern,

ist er ebenfalls unterwegs zu mir,

und sieht mich schon lange,

bevor ich ihn sehen und verstehen und begreifen kann.

 

So wie er es gesagt hat, wird es sein:

„Ich will euch wiedersehen. 

Und euer Herz soll sich freuen“.

 

Amen.

Literatur

Julia Koll, Wiedersehen macht Freude in: Göttinger Predigtmeditationen 71, 2017

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