Mut zur Demut
Predigt zu Lukas 18,9-14
9 Er sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
(Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Auflage 2017)
I
Liebe Gemeinde,
Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner,
ist ein Klassiker unter den Gleichnissen.
Im Laufe der Geschichte haben sich aus den beiden Personen,
Pharisäer und Zöllner
geradezu zwei Stereotypen herausgebildet.
Der Zöllner steht für den zerknirschten, reuigen Sünder, der ehrlich vor Gott tritt.
Geradezu ein Ideal in Sachen Selbsterkenntnis und Umkehr.
Die Sympathien der Christinnen und Christen fliegen ihm zu.
Der Pharisäer hingegen wurde zum unsympathischen Heuchler stilisiert,
der nur so tut, als ob er fromm sei und sich an die Regeln hält,
heimlich aber ganz anders lebt
Selbst ein nordfriesisches Getränk wurde nach ihm benannt:
süßer Kaffee mit braunem Rum und einer Sahnehaube obendrauf.
Der Überlieferung nach wurde dieses Getränk auf der Insel Nordstrand im 19. Jh. kreiert.
Sie kennen vielleicht die Geschichte.
In Gegenwart des Pastors, der einen sehr asketischen Lebenswandel führte,
war es Brauch, keinen Alkohol zu trinken.
Bei der Taufe seines 6. oder 7. Kindes griff ein Bauer aber zu einer List.
Man fügte dem heißen Kaffee einen Schuss Rum hinzu.
Die Sahnehaube sollte verhindern, dass es nach Alkohol riecht.
Der Pastor bekam natürlich stets einen normalen Kaffee.
Als der ganze Schwindel jedoch auffliegt, ruft der Pastor:
„Oh, ihr Pharisäer“
Heute schmunzeln wir über diese Geschichte und denken vielleicht:
Gut, dass wir solch ein Versteckspiel nicht mehr nötig haben.
Es lohnt sich jedoch, das Gleichnis genauer zu betrachten.
Jesus erzählt diese Geschichte Menschen,
die überzeugt sind, fromm und gerecht zu sein und die anderen verachten.
Unwillkürlich stelle ich mir selbst die Frage:
In welcher Haltung begegne ich andern?
Werte ich andere Menschen ab wegen ihres Glaubens, ihrer Religion, ihres Lebensstils?
Würde ich es mir überhaupt eingestehen,
wenn ich mich für fromm und gerecht halten würde?
Das Wort "fromm" wird heute ja eher abschätzig gebraucht
für ein allzu enges, unfreies Glaubensleben.
Hat sich meine Haltung deshalb eher umgedreht und ich denke:
Gut, dass ich nicht bin wie dieser Pharisäer,
nicht so scheinheilig und selbstgerecht?
Als protestantische Christin weiß ich,
dass ich meinen Glauben in Freiheit leben darf,
weil ich von Gott angenommen bin,
ohne dass ich selber etwas dazu tun muss.
Der Autor Eugen Roth hat diese Umkehrung
in einen ironischen Vers gefasst:
„Ein Mensch betrachtete einst näher
Die Fabel von dem Pharisäer
Der Gott gedankt voll Heuchelei
Dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! rief er in eitlem Sinn,
Dass ich kein Pharisäer bin!“
II
In der Zeit, in der Jesu diese Geschichte erzählt,
waren die Pharisäer beim Volk jedoch sehr geachtet.
Sie bildeten eine große religiöse Laienbewegung,
die Vertrauen und Ansehen genossen hat
und arbeiteten in vielen Berufen,
sie stehen also mitten im Leben.
Täglich lesen sie die Tora und versuchen
die jüdischen Gesetze für den Alltag auszulegen.
Der Pharisäer in unserer Geschichte spricht sein Dankgebet.
Er weiß, wem er sein Leben verdankt.
Mit seinem ganzen Leben will er nichts anderes,
als Gott dienen und seine Gebote befolgen.
Er lebt seinen Glauben auch praktisch,
indem er zweimal in der Woche fastet
und den 10. Teil seines Einkommens an die Armen gibt;
eine Frömmigkeit eben, die sich auswirkt
auch im sozialen und diakonischen Bereich.
Wir würden heute sagen:
Ein Mensch, der sich für das Gemeinwohl einsetzt,
viel Gutes tut, sich nichts zu Schulden kommen lässt
und sich an die Regeln hält
und eben gerade kein Gauner und Verbrecher ist,
sondern zuverlässig und vertrauenswürdig.
Die Zöllner hingegen sind verhasst bei den Menschen.
Sie arbeiten mit der römischen Besatzungsmacht zusammen,
haben einen Zollbezirk gepachtet, treiben Geld für die Obrigkeit ein,
schlagen ordentlich was obendrauf, das sie selber behalten können.
Die Menschen fühlten sich ausgepresst und drangsaliert von ihnen.
Auf diesem Hintergrund ist diese Geschichte
eine riesige Provokation für die Zuhörerinnen und Zuhörer,
wenn Jesus sagt:
„Ich sage euch: Dieser (der Zöllner) ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.“
Nicht der geachtete Pharisäer sondern der verhasste Zöllner.
Beide verhalten sich so, wie es von ihnen gerade nicht erwartet wurde:
Dem geachteten Pharisäer passiert es,
dass er andere verachtet, obwohl er im Grunde weiß,
dass dies gegen Gottes Gebot der Nächstenliebe verstößt.
Der gehasste Zöllner, betritt tatsächlich den Tempel,
obwohl man es von ihm nie erwarten würde.
Er wagt es nicht nach vorne zu kommen,
aber er wagt es, vor Gott zu treten.
Man stelle sich vor die Topmanager von Wirecard,
stünden plötzlich in der Kirche.
Oder die Chefs des Fleischfabrikanten Tönnies.
Oder unser Nachbar, der noch nie viel von Kirche gehalten hat
oder ein ortsbekannter Sonderling, dem keiner richtig traut.
Sie würden ganz hinten stehen, den Blick gesenkt halten,
vor Scham es nicht schaffen, aufzublicken
und sagen: „Gott sei mir Sünder gnädig.“
Und Gott?
Er hört ihr Gebet.
Er verurteilt sie nicht.
Er spricht sie frei.
Diese gehen gerechtfertigt in ihr Haus.
Diese gehen als Versöhnte hinaus aus der Kirche.
III
In Jesu Geschichten finden sich oft solche Überraschungen,
mit denen keiner rechnet;
Das Gleichnis stellt sich quer zu allem Schubladendenken,
das die Menschen einteilt in gut und böse, gläubig und ungläubig,
gerecht und ungerecht.
Denn es gibt nicht nur schwarz und weiß.
Der Pharisäer hat auch viel Gutes getan.
Ebenso bleibt es schlecht, wenn der Zöllner,
die Leute um ihr Geld betrügt und eine ungerechte Gewaltherrschaft unterstützt.
Weder soll der Pharisäer aufhören, den Armen Gutes zu tun
und Gott dankbar zu sein für sein Leben
noch soll der Zöllner weiterhin die Leute auspressen.
Wir müssen auch heute Menschen widersprechen und in Schranken weisen,
die Unrecht tun oder gefährliche Propaganda verbreiten.
Wenn ich Rassismus ablehne
oder mich jetzt in der Corona-Krise solidarisch verhalte und meine Maske trage,
handle ich so verantwortungsbewusst wie möglich.
Aber meine Überzeugung zu vertreten,
ohne in Hochmut und Selbstgerechtigkeit zu fallen,
ist und bleibt eine Herausforderung.
Die Geschichte sagt uns:
Jeder und jede kann sich verändern zum Positiven oder Negativen.
Der Zöllner braucht nicht in seinem ungerechten Handeln gefangen bleiben.
Veränderungen zum Guten sind möglich auch dort,
wo es niemand mehr erwartet.
Das und nicht weniger sollen wir Gott zutrauen.
Umgekehrt ist der Pharisäer nicht bloß wegen seiner Zughörigkeit
zu dieser religiösen Gruppe von Menschen davor gefeit,
sich über andere zu stellen.
Auch er kann herausfallen aus der Barmherzigkeit und Liebe
gegenüber Gott und seinem Nächsten
Oder mit einem Wort des Apostels Paulus (1. Kor 10,12):
„Darum, wer meint, er stehe, soll zusehen, dass er nicht falle.“
Und umgekehrt, wer gefallen ist, der soll wieder aufstehen dürfen.
Entscheidend dabei ist, was wir in der Schriftlesung gehört haben:
„Gott ist reich an Erbarmen. Er hat uns seine ganze Liebe geschenkt“
(Eph 2,4 in der Übersetzung der Guten Nachricht)
Weder die Erfolgsbilanz des Pharisäers
noch die Verzweiflung des Zöllners entscheidet darüber,
wie es zwischen Gott und diesem Menschen wirklich steht.
Auch die Reue des Zöllners ist kein frommes Werk.
Demütig zu bleiben, ohne sich etwas darauf einzubilden -
ist ebenfalls eine Herausforderung, die sich schnell in Hochmut verkehren kann:
Gott, ich danke dir, dass ich wenigstens weiß,
dass ich Sünder bin und nicht so bin wie jene, denen das nicht bewusst ist.
Das Gleichnis ruft uns deshalb zu:
Stelle dich nicht über andere, sondern überlass das Urteilen Gott.
Unsere Aufgabe ist es, heute dazu beizutragen,
dass dass Gottes Güte und Erbarmen spürbar werden auf unserer Welt.
So soll es auch sein in unserer Kirche:
Da sind Menschen öffentlich versammelt.
Keiner hat Zeit, den anderen kritisch zu mustern.
Unser Blick ist auf Gott gerichtet,
dessen Güte jedem Menschen offen steht.
IV
„Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden;
und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“
Mit diesen Worten endet unser Predigttext.
Der Pharisäer erhöht sich selbst, indem er andere klein macht
und seine eigenen guten Taten aufzählt.
Er vergleicht sich nach unten
und fühlt sich dem Zöllner moralisch überlegen
Nur so findet er seine Stärke.
Doch manchmal geschieht es auch umgekehrt,
dass ich mich nach oben vergleiche,
dass ich mich durch das Vergleichen ganz klein und minderwertig fühle,
wenn ich entdecke: Andere können etwas besser als ich,
haben es in ihrem Leben viel weiter gebracht.
Doch Vorsicht: Das ist nicht mit Selbsterniedrigung gemeint.
Selbsterniedrigung meint nicht,
dass ich meine Gaben und Leistungen und alles Gelungene klein rede,
dass ich Lob nicht annehmen darf,
Oder gar nicht mehr aufhöre, mit zerknirschter Mine nach unten zu blicken
und mich minderwertig zu fühlen.
Das wäre eine falsch verstandene Demut.
Ich bliebe ebenfalls gefangen in mir selbst und meinen Leistungen.
Demut meint vielmehr, den Mut haben, mich selbst zu erkennen.
Ich erkenne all meine Fähigkeiten und Möglichkeiten
und alles, was ich erreicht habe und freue mich darüber.
Aber ich habe auch den Mut, in meine eigene Tiefe hinabzublicken.
Ich erkenne meine Unvollkommenheit und Begrenztheit
und merke, dass ich nie alles richtig machen kann.
Ich spüre den schmalen Grat, auf dem ich manchmal gehe
und von dem ich jederzeit herabstürzen kann.
Manchmal entdecke ich den Hochmut und die Selbstgerechtigkeit in mir selbst,
und manchmal entlarve ich meine falsch praktizierte Demut
Und plötzlich stehe ich da wie jener Zöllner.
Der Zöllner erkennt: Ich habe nichts mehr, was ich vorweisen kann.
Er steht allein vor Gott, vergleicht sich nicht mehr mit anderen.
Er kann nur noch beten: „Gott, sei mir Sünder gnädig“.
Er zeigt Gott sein Innerstes und spürt, dass dabei etwas gut wird.
Denn Gott öffnet sein Herz auch ihm
und lässt ihn seine Zuwendung spüren.
Eine Begegnung voller Offenheit und Vertrauen findet hier statt im Gebet.
Solche Begegnungen gibt es auch zwischen Mensch zu Mensch
Sie sind wertvoll und kostbar
und lassen die Liebe Gottes in unserem Leben konkret werden.
In solchen Begegnungen fühle ich mich nicht besser oder wichtiger als andere,
sondern versuche mich in sie hineinzuversetzen,
zu verstehen, was in ihnen vorgeht, teile ihr Leiden und ihre Freude
und fühle mich auch selber angenommen mit dem,
was mich belastet.
In solcher Demut wendet sich Gott in Jesus Christus den Menschen zu
wird solidarisch mit ihnen, teilt ihren Weg
Denn diesen ehrlichen Blick auf mich selbst
könnte ich auf Dauer gar nicht aushalten,
wenn da nicht noch ein anderer Blick auf mich fallen würde.
Wenn da nicht noch ein anderer vor mir stünde,
der mich nicht fertig macht und von sich stößt,
sondern mich ansieht mit Güte und Liebe und Erbarmen,
und sein gutes und freisprechendes Wort hören lässt:
Ein bißchen wie bei einem Kind,
das wagt seinen Eltern einen Fehler einzugestehen,
weil es darauf vertraut:
Ich werde nicht ausgeschimpft oder bloß gestellt in meiner Scham,
sondern in den Arm genommen.
Alles wird gut. Ich kann lernen zu meinen Fehlern zu stehen.
In solcher Begegnung vergesse ich alles andere,
meine Rechtschaffenheit und meine dunkle Seite,
meinen ganzen zwielichtigen Zustand
und mein Vergleichen mit anderen,
das mich nicht zur Ruhe kommen lässt.
Da ist nur noch eines interessant:
Der mir zugewendete und mich annehmende Gott, der mir sagt:
Du bist mir recht.
Du bist geliebt.
So darf ich den Blick wieder frei erheben
und froh nach Hause gehen.
Amen
________
Literatur:
-
Thomas Popp, Werbung in eigener Sache (Vom Pharisäer und Zöllner) in: Kompendium der Gleichnisse Jesu, hg. von Ruben Zimmermann, Gütersloher Verlagshaus, 2. Auf. 2015, Seite 681- 695
-
Hanne Köhler, Hören lernen und beten lernen, Predigt zu Lukas 18,9-14 in: Gott ist anders, Gleichnisse neu gelesen, hg. Marlene Crüsemann, Claudia Janssen, Ulrike Metternich, Gütersloher Verlagshaus 1. Aufl. 2014, Seite 332-337
-
Gottfried Voigt, Der schmale Weg, Homiletische Auslegung der Predigttexte Reihe I, Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 2. Auflage, 1984, Seite 371-378