Welch ein Traum
Predigt zu Jesaja 35,3-10 (2. Advent)
(Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 2017)
3Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 4 Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. 7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
8 Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. 9 Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. 10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
I
Liebe Gemeinde
Welch ein Traum!
So wünsche ich es mir.
Seht da ist euer Gott!
Einen starken Gott wünsche ich mir.
Da wo ER am Werke ist,
da wird alles sehr gut.
Da wird alles neu.
Da werden in den vordringenden Wüsten Quellen sprudeln
und die Menschen werden Weizen und Hirse anpflanzen.
Da werden Blumen blühen und Früchte wachsen,
wo vorher alles öde und trocken war
und die Natur wird sich die Wüste zurückerobern.
Da werden Hunger und Armut vergangen sein,
die Menschen werden Zugang haben zu frischem Wasser
und Schule und Bildung wird für alle möglich sein.
Da werden die Geschäftemacher,
die Profit schlagen aus den Kriegen auf der Welt
in neue menschenfreundliche Geschäftsmodelle investieren,
die die Menschen und die Natur schützen und bewahren.
Da werden Menschen, die ausgegrenzt sind,
wieder in der Mitte der Gesellschaft sein
und statt aussichtsloser Situationen
werden sich gangbare Wege auftun.
Da werden keine reißenden Löwen und aasfressenden Schakale
am Wegrand lauern und auf Beute warten
sondern sichere Straßen sein,
auf denen die Erlösten ihrem Gott entgegen gehen
„Freude und Wonne wird sie ergreifen,
Schmerz und Seufzen wird entfliehen“.
Seht, da ist euer Gott.
Da ist Advent!
Da ist Ankunft Gottes im Leben.
Welch ein Traum!
Aus diesem Traum möchte ich nicht mehr erwachen.
II
Aber ich werde geweckt.
Ich muss aufwachen.
Und ich sehe andere Bilder:
Seht, da sind die Menschen.
Seht da sind zerplatzte Träume,
enttäuschte Hoffnungen.
Da sind die Wüsten des Lebens,
in denen blühen Verzweiflung, Angst und Resignation.
Seht da sind
müde Hände, wackelnde Knie, verzagte Herzen,
wörtlich: Abgehetzte Herzen
Abgehetzte Herzen auch in der Adventszeit,
die wir uns doch still und besinnlich wünschen.
Da sind keine fröhlichen Prozessionen,
da sind lange Staus auf den Straßen,
und an den Warteschlangen der Kassen,
Abgehetzte Herzen, unterwegs in täglichem Stress,
in Druck und Überforderung.
Seht da sind Menschen, abgehängt vom Leben,
Menschen mit Behinderungen
Menschen im täglichen Kampf ums Durchkommen,
in Obdachlosigkeit, Krankheit, Einsamkeit.
Seht, da sind Träume, die sind Leben vernichtend.
Die entzünden sich an Gier und Machtinteressen.
Die sind beflügelt durch Rache und Vergeltung.
Die führen in immer neue Spiralen von Gewalt
und in die Selbstzerstörung.
Seht da ist der alltägliche Kleinkrieg
unter Kindern, unter Jugendlichen, unter Erwachsenen,
das Ausleben von Hass und Neid,
die offene und geheime Rachewirklichkeit mitten im Alltag.
III
Ich möchte am liebsten wieder schlafen,
abtauchen in die Welt der Träume.
Ich möchte die schönen Bilder wieder vor Augen haben.
Da ist alles gut und heil.
Da ist Gott.
Doch ich kann nicht schlafen.
Ich höre die Schreie:
Wo ist Gott?
Wo ist er denn?
Welchen Grund, welchen Anker haben diese traumhaften Bilder
von den Blinden, die sehen und den Lahmen, die gehen
und den Tauben, die hören und den Wüsten, die blühen?
Und ich sehe den Propheten.
Er schaut auf sein Land.
Er sieht auf sein resigniertes, abgekämpftes Volk.
Er sieht die vielen Hände,
die darauf warten, gestärkt zu werden.
Sein Traum entzündet sich an den Bildern seiner Gegenwart.
Er provoziert Sehnsüchte und Wünsche
Denjenigen, die im Sumpf dieser Welt leben
mit ihren „tausend Plagen und großen Jammerlast“
wie es Paul Gerhard in seinem Adventslied ausdrückt (EG 11,5)
malt er seine Bilder vor Augen
und ruft ihnen zu:
„Stärkt die müden Hände, macht fest die wankenden Knie,
sagt den verzagten Herzen:
Seid getrost, fürchtet euch nicht!
Seht, da ist euer Gott!“
Dort bei euch hält er Einzug.
In eurer Wüste.
In eurer Welt sind die Worte geerdet.
Auf unwegsamem Gelände
Auf der Schotterpiste.
Dort entsteht Neues.
In mir selbst fängt es an.
Es gibt Zeiten, die sind wie dürre Wüsten,
Schritt für Schritt kämpfe ich mich durch und entdecke:
Da war doch ein Weg durch die Unwegsamkeit.
Da ist ein Mensch an meiner Seite,
der gibt mich nicht auf.
Die Wüste blüht. Es sprudeln Quellen.
Ich entdecke neue Kräfte in mir.
Ich stehe auf, nehme mein Leben in die Hand.
„Seht, da ist mein Gott“
Der Prophet sieht jene,
denen bitterste Unrecht geschieht,
ihnen ruft er zu:
„Gott kommt zur Rache“
Ich wünsche mir einen starken Gott.
Aber so einen?
Bilder eines zornigen, blutrünstigen Gottes
steigen in mir auf.
Die Menschen, denen bitterstes Unrecht geschieht,
hören darin aber Hoffnung aufklingen, an der sie sich festhalten:
Unsere Tränen sind nicht vergessen.
Unser Schreien ist gehört.
Das Unrecht wird gesehen,
nicht unter den Teppich gekehrt.
Gott lässt uns nicht im Stich.
Er sucht Menschen,
die uns nicht im Stich lassen.
In diesen Worten hören wir auch:
Wenn Gott zur Rache kommt,
Dann ist all jenen, die Unrecht tun und Menschen Leid zufügen
der Boden entzogen.
Dann hat der menschliche Kreislauf
von Rache und Vergeltung, in dem Menschen
sich selbst und andere zerstören, keine Grundlage mehr.
Dann ist es mir auch verwehrt,
meine eigenen Rachegedanken auszuleben
und in die Tat umzusetzen.
An diesem Punkt unterscheiden sich gefährliche Ideologien
oder billige Sprüche von den Hoffnungsbildern, denen wir trauen können.
Wenn Gott kommt,
befriedigt er nicht unsere menschlichen Rachegelüste,
die immer neues Unheil produzieren.
Da befriedigt er unsere Sehnsucht nach Heil und Frieden.
Da nimmt er uns mit in seinen Traum,
in dem alles neu wird, auch die Rache.
IV
Als Christinnen und Christen verbinden wir
den Traum des Propheten mit Jesus aus Nazareth.
Seht, da ist euer Gott - und wir sehen das Kind in der Krippe.
Seht, da ist euer Gott - und wir sehen ihn verpackt in all seiner Menschlichkeit.
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“
Wir haben diese Frage des Johannes in der Schriftlesung vorhin gehört.
Johannes sitzt im Gefängnis.
Vielleicht überfallen ihn Zweifel:
Woran kann ich merken, dass du tatsächlich der Messias bist,
auf den wir so sehnlichst warten?
Jesu Antwort nimmt Worte unseres Predigttextes auf:
„Blinde sehen und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören,
Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“
Wie kein anderer lebt er die Vision des Jesaja,
wenn er den Blinden am Wegrand schreien hört,
bei ihm stehen bleibt und seine Augen öffnet;
wenn er den Aussätzigen,
den alle wegstoßen berührt und in die Gesellschaft zurückholt,
wenn er Tote ins Leben ruft,
wenn er bei Zöllnern und Sündern einkehrt
und ihnen Gemeinschaft anbietet,
damit ihr Leben neu werden kann.
„Seht, da ist euer Gott“ - in dieser Zuwendung zum Menschen.
Einen mächtigen, starken Gott wünsche ich mir,
und ich sehe die Macht der Liebe,
die keinen Menschen aufgibt
die den Hass und den Tod verwandelt
und ins Leben ruft.
In den Wüsten der Welt ist das Kommen Gottes geerdet.
Deshalb kann auch die Wüste ein Ort sein,
an dem Quellen sprudeln und Blumen wachsen.
Deshalb kann auch der unheiligste Weg sich wandeln,
und die Schotterpiste zu einem Weg des Heils werden.
Blinde Augen und taube Ohren müssen immer neu geöffnet werden,
Reißende Löwen immer neu gebändigt
und müde Hände immer neu gestärkt werden.
Die bunten Bilder, die der Prophet malt,
graben sich ins Herz, werden gefüllt mit Erfahrung,
schenken Hoffnung in dürrer Zeit.
Dort berühren sich Traum und Realität.
V
Welche Kraft können Menschen an den Tag legen,
die von Träumen und Visionen angesteckt werden.
Die Sehnsucht nach Veränderung treibt sie an.
Visionäre sind überall gesucht auf unserer Welt,
in der Wirtschaft, in der Politik, in der Entwicklung,
in der Technik, im sozialen Bereich,
in der Schule, in der Familie, in unseren Kirchen.
Menschen, die ein Ziel vor Augen haben,
kleine Schritte gehen
und nach Rückschlägen wieder neu anfangen.
„Ich habe einen Traum“, so begann die große Rede von
Martin Luther King 1963.
„Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln
von Georgia die Söhne früherer Sklaven und
die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch
der Brüderlichkeit sitzen können.“
Solch einen Traum haben auch die Menschen im Herbst 1989 in der DDR.
Zehntausende gehen mit Lichtern auf die Straßen.
Sie riskieren ihr Leben.
Wo nichts zu sehen ist als Mauern,
wo nichts zu hören ist, als lebensverneinende Ideologien
finden sie sich nicht damit ab.
Sie suchen einen Weg in die Freiheit.
Welche Träume beflügeln mich?
Welches Ziel habe ich vor Augen?
Ich habe einen Traum,
dass Menschen unterschiedlicher
Glaubensrichtungen und Religionen sich begegnen können
in Offenheit und Vertrauen auch mit ihren Zweifeln und Fragen
Ich habe einen Traum,
dass die biblischen Worte
keine toten Buchstaben bleiben
sondern dass in ihren Worten
der Geist der Liebe Jesu Christi lebendig wird,
der uns beflügelt auf unserem Weg.
Ich habe einen Traum,
dass dieser Geist immer wieder bei mir selber anfängt
und mich lebendig macht.
VI
Träume, die sich an der Menschenfreundlichkeit Gottes entzünden
lullen nicht in seligen Schlaf.
Im Gegenteil, sie lassen die Menschen erst richtig wach werden.
Sie sehen die Welt wie sie ist.
Bereits das Ziel vor Augen,
suchen sie Veränderung.
Auf diesem Weg sind wir nicht alleine
sondern miteinander unterwegs.
Der Prophet sieht das Ziel vor Augen.
„Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen
und nach Zion kommen mit Jauchzen;
ewige Freude wird über ihrem Haupte sein;
Freude und Wonne werden sie ergreifen,
und Schmerz und Seufzen wird entfliehen“.
Ich möchte wach bleiben,
diese Bilder mitnehmen in meinen Alltag
und diese Worte hören:
„Stärkt die müden Hände,
macht fest die wankenden Knie
Seht, da ist euer Gott
Seid getrost. Fürchtet euch nicht.“
Amen