"Wir können neu ins Leben gehn"
Predigt zu: Genesis 8,18-22; 9,12-17
(Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Auflage 2017)
18 So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, 19 dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen.
20 Noah aber baute dem HERRN einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. 21 Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. 22 Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.
12 Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes, den ich geschlossen habe zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier bei euch auf ewig: 13 Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. 14 Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. 15 Alsdann will ich gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch verderbe. 16 Darum soll mein Bogen in den Wolken sein, dass ich ihn ansehe und gedenke an den ewigen Bund zwischen Gott und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch, das auf Erden ist. 17 Und Gott sagte zu Noah: Das sei das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe zwischen mir und allem Fleisch auf Erden.
I
Vielen von uns ist die Geschichte von Noah seit der Kindheit vertraut.
Wir haben die Bilder vor Augen:
Die Sintflut, die die Erde überschwemmt und alles Leben auslöscht
Noah, seine Familie und all die Tiere,
die in der Arche Zuflucht und Rettung finden.
Die Taube, die von Noah ausgeschickt wird
und mit einem grünen Zweig im Schnabel zurückkehrt.
Und schließlich der Regenbogen,
der uns an das Versprechen Gottes erinnert:
„Solange die Erde steht,
soll nicht aufhören, Saat und Ernte, Frost und Hitze,
Sommer und Winter, Tag und Nacht.“
Doch unwillkürlich denken wir vielleicht
an all die Fluten von Katastrophen,
die seither über die Erde hinweggerollt sind
und die unzähligen Einzelschicksale, die sich damit verbinden.
„Alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich“,
ruft der Beter des 42. Psalms in persönlicher Bedrängnis.
Hören die Menschen in den Kriegsgebieten,
diese Geschichte nicht auch als ihre persönliche Flutgeschichte?
Machen die Menschen in den Dürregebieten nicht gerade diese Erfahrung,
dass Saat und Ernte eben doch ausbleiben?
Das Vertrauen in die Beständigkeit unserer Lebensgrundlagen wird brüchig
angesichts der Bedrohungen, denen die Erde ausgesetzt ist:
Sinflutartige Regenfälle, Dürreperioden, Wirbelstürme
Abholzung der Regenwälder,
Atomwaffen, die ausreichen, um unsere Erde mehrfach zu vernichten.
Die nüchterne Erkenntnis scheinbar täglich bestätigt:
„Das Menschenherz ist böse von Jugend auf“
Sintflut - nicht eine Geschichte von damals
sondern eine Geschichte von heute.
Nicht eine Geschichte, die vergangen ist,
sondern eine Geschichte, die geschieht.
Und mittendrin in diesem Szenario machen Menschen die Erfahrung:
Wir sind bewahrt geblieben. Wir sind gerettet.
"So ging Noah heraus" aus der Arche
und mit ihm seine Frau, seine Söhne,
seine Schwiegertöchter und alle Tiere.
Keinen unnüchternen Blindflug unternimmt er,
wohl überlegt setzt er seine Schritte,
steuert sein Schicksal mit Umsicht und Vorsorge.
Er schickt den Raben, er schickt die Taube,
er lässt seinen prüfenden Blick über die Erde schweifen
und weiß sich im Einklang mit Gottes Willen.
„Geh aus der Arche“, sagt der zu ihm.
Ziel ist es, wieder herauszukommen aus dem engen Kasten,
Boden unter den Füßen zu bekommen,
Schritte ins Leben zu gehen, ins Weite, in die Freiheit.
Und dann betreten sie diese Welt,
die noch die Spuren der Verwüstung trägt.
II
Geschichten von einer großen Flut in der Urzeit
sind über die ganze Erde verbreitet gewesen.
Völker, die solche Geschichten erzählen,
setzen sich mit den Erfahrungen ihres Lebens auseinander:
Sie entdecken, dass Schuld grauenhaft und zerstörerisch sein kein.
Sie spüren die Unsicherheit und Gefährdung,
der unser menschliches Leben ausgesetzt ist.
Alles Unglück und alles Glück das die Menschen nicht beeinflussen können,
schreiben sie ihren Göttern zu.
launische Götter, die alles Leben auslöschen, wenn man sie provoziert,
und freundliche Götter, die die Menschen schützen.
In Stein gemeißelt, mit dem großen Pfeilbogen eines Jägers,
so hat man im Alten Orient die Götter dargestellt,
die besonders stark und mächtig galten.
Man spürt den biblischen Autoren ab,
wie sie sich auseinandersetzen mit diesen Geschichten,
wie sie ringen in ihrem Glauben und ihrer Frage nach Gott und dem Leben,
auf die es keine einfachen, theoretischen Antworten geben kann.
Eine unerträgliche Spannung und tiefe Zumutung liegt in der biblischen Geschichte.
Nicht verschiedene gute und böse Götter sind hier am Werk
sondern der Eine Gott, dem wir doch lieben und dem wir vertrauen wollen,
beschließt die Vernichtung allen Lebens, auch der Tiere und der Pflanzen.
Nicht in Stein gemeißelt begegnet uns dieser Gott
sondern zutiefst menschlich und leidenschaftlich.
Nicht unbeteiligt am Geschehen auf der Erde
sondern mit dem Herzen seinen Menschen verbunden.
Die Pfeile mit denen Menschen einander töten, verletzen beleidigen,
missachten und zugrunde richten, gehen mitten durch sein eigenes Herz.
Zerstörerische Wut und bedingungslose Liebe,
entfesselter Zorn und tiefes Leid
den Willen zu vernichten und den Willen zu retten -
diese Zerrissenheit muss dieser Eine Gott selbst durchkämpfen.
Man möchte fast sagen:
Wie ein Mensch, der von seinem Lebenspartner verlassen wird
und aus diesem Schmerz heraus dreinschlagen will,
obwohl er ja die Partnerin liebt und sie nicht verlieren möchte.
III
„Gott sprach in seinem Herzen“
Das Herz ist in der Bibel die Mitte der Person
von der alles Denken und Fühlen und Wollen ausgeht.
Gott entscheidet diesen Kampf, den er ausfechten muss
zugunsten seiner Menschheit.
„Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen;
denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“
Wer könnte dieser Diagnose widersprechen?
Niemand von uns ist davor gefeit, Böses zu denken und zu tun
und Gutes zu unterlassen
Auch Noah und die Seinen sind davon nicht ausgeschlossen.
Auch nach der Sintflut gibt es Bosheit auf Erden.
Und doch: Nur weil Gott dem Menschen auch Gutes zutraut,
ruft er ihn auch immer wieder zur Umkehr.
Nicht auf die unversehrte Erde führt der weitere Weg Noahs
sondern in diese unvollkommene Welt mit ihren Gefahren und Katastrophen,
und zugleich mit ihrer Schönheit und ihren Wundern.
Die Bosheit des menschlichen Herzens und zugleich seine Fähigkeit zu lieben,
Frieden zu schaffen und Versöhnung zu leben
liegen in ein- und demselben Menschen oft nahe beieinander.
Der Neuanfang Noahs ist keine paradiesische Selbstverständlichkeit,
sondern immer neue und mühevolle Aufgabe und Herausforderung,
in dieser Freiheit zu leben und sich für das Gute zu entscheiden.
Die biblische Geschichte zeigt einen neuen, überraschenden Weg Gottes,
mit menschlicher Bosheit umzugehen.
„Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt“ sagt Gott.
Auf dem Hintergrund der altorientalischen Kriegsbögen,
kann man diese Aussage so verstehen:
Gott hängt den Kriegsbogen in die Wolken.
Er hängt ihn weit weg von der Erde, dorthin wo er keinen Schaden anrichten kann.
Er hängt ihn an den Nagel.
Er schießt keine Pfeile gegen Menschen, die ungerecht und böse handeln,
weil dies nichts bringen würde.
Er schmiedet die Schwerter zu Pflugscharen,
verwandelt den Kriegsbogen zu einem Friedensbogen,
den wir als Regenbogen mit seinen leuchtenden Farben bewundern.
„Das ist das Zeichen des Bundes, den ich aufgerichtet habe,
zwischen mir und allem Fleisch“
Gott bleibt seiner Erde verbunden
und hört nicht auf, an sie zu denken.
Dasselbe hebräische Wort, das M. Luther mit „aufrichten“ übersetzt,
wird auch dafür gebraucht,
um einen Gestrauchelten zum Aufstehen zu bringen,
einem gefallenen Tier wieder zum Leben zu helfen,
einem Niedergedrückten wieder einen Schritt ins Leben zu ermöglichen.
Habe vor einiger Zeit einmal den Satz gelesen:
„Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdient habe,
denn dann brauche ich es am meisten“
Gerade dann, wenn ich mir selbst nicht mehr in die Augen blicken kann,
bin ich am meisten darauf angewiesen, dass da jemand ist,
der zu mir hält und mit nicht aufgibt,
damit ich die Kraft finde, aufzubrechen und neue Wege zu gehen.
IV
Noahs Neuanfang auf unserer Welt beginnt mit einem Opfer.
Er nimmt von den Tieren, die die große Flut überlebt haben
und eben noch mit ihm aus der Arche herausgegangen sind,
tötet sie und opfert sie auf dem Altar.
„Und der HERR roch den lieblichen Geruch“
der doch eigentlich zum Himmel stinkt.
Johannes Calvin bemerkt an dieser Stelle:
„Verbranntes Fleisch und Eingeweide riechen übel.
Was aber hier für Gott lieblich riecht und ihm wohlgefällt, ist Noahs Gehorsam“
Noah spürt:
Mein Leben ist ein Geschenk.
Ich bin gehalten von Gottes Segen.
Ich möchte meinen Dank dafür zum Ausdruck bringen.
Er macht das so wie er es in seiner Kultur und Religion gelernt hat.
Er knüpft an Früheres an.
Der Rhythmus des Lebens, gewohnte Rituale,
können helfen, wieder Halt zu finden nach traumatischen Erfahrungen.
Gott aber sieht nicht nur mit dem Herzen,
er riecht auch mit dem Herzen,
er hat einen guten „Riecher“ für das Geschehen auf der Erde
und lässt sich nicht bestechen mit Opfern.
An anderer Stelle lässt er durch seinen Propheten ausrichten:
"Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen -
es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar." (Amos 5,21)
Von Noah lernen möchte ich:
Jeden Tag als neue Chance begreifen und meine Schritte gehen ins Leben.
Aus dem Dank die Kraft schöpfen für einen Neuanfang.
Wir alle, die wir leben, sind Gerettete, Überlebende der Arche,
treten in diese Welt und haben den bleibenden Auftrag,
die Erde nicht nur zu bebauen sondern auch zu bewahren
V
Bereits in dieser alten Geschichte scheint die Erkenntnis durch:
Der eine Gott, dem wir vertrauen und glauben möchten,
der straft uns nicht durch Sintfluten und Erdbeben und Flugzeugunglücke
und Krankheiten und Katastrophen und Umweltverschmutzung.
Wir brauchen keinen Gott, um solches Chaos erklären zu können.
Vieles davon haben wir selber zu verantworten.
Unser Glaube aber sucht immer wieder nach diesem einen Gott,
dem wir inmitten aller Nöte vertrauen wollen,
dass er zu uns hält und an uns denkt,
wenn die Gewitterwolken über uns schweben.
Unser Glaube hört nicht auf, mit diesem Gott zu ringen,
dass er bei uns bleibt mit seinem Segen und tut, wie er versprochen hat:
„Ich will gedenken an meinen Bund zwischen mir und euch
und allem lebendigen Getier unter allem Fleisch.“
Auch unser Herz muss immer wieder diesen Kampf ausfechten,
die Sicherheit der Arche zu verlassen
und diesem einen Gott zu vertrauen, dass sein Bund,
den er geschlossen hat, trägt.
Wir Menschen und alles lebendige Getier,
die Vögel am Himmel, die Fische im Meer, die Tiere an Land
sind zusammen mit Wasser und Erde und Pflanzen
Teile der großen und noch immer wunderbaren Schöpfung Gottes,
die nicht isoliert voneinander gesehen werden können
sondern alle eingeschlossen sind in diesen Bund.
Alle zusammen sind wir ein einzigartig gestaltetes Gefüge,
das aus dem Lot gerät, wenn wir Menschen anfangen
unsere Mitmenschen und Mitgeschöpfe und die Natur zu missbrauchen
und uns selbstherrlich über sie zu stellen und selber Gott zu spielen.
Die Natur ist mehr als ein Rohstofflager,
die Tiere sind mehr als nur Fleischlieferanten,
der Mensch ist mehr als nur Produktionskraft.
Wir ahnen mehr denn je zuvor,
diese unheimliche Möglichkeit, immer wieder neue
Fluterfahrungen über die Menschheit heraufzubeschwören.
Die Worte von Gottes Bund sind keine Sicherheitsgarantie.
Sie wollen in jeder Zeit neu gehört und geglaubt werden,
am meisten dort, wo Menschen am Ertrinken sind
und die Schöpfung seufzt und stöhnt.
VI
Und manchmal entdecken wir dann mittendrin in unserer alten Welt,
die Farben einer neuen Welt durchblitzen,
einer Welt wie Gott sie sich gedacht hat,
wenn auch Menschen ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden,
ihre kleinen und großen Kriege beenden
und Mut und Kreativität aufbringen zum Schutz von Menschen und Tieren
und Pflanzen und Wasser und Luft
Wir entdecken das Herz Gottes,
wenn Menschen einander Archen bauen,
in denen sie Schutz und Zuflucht finden, bis die Fluten wieder vorbei sind,
die über sie hinweg gehen.
Wir spüren das Herz Gottes in Jesus Christus schlagen,
wenn er Menschen ermahnt und aufrichtet und tröstet und heilt,
wenn er die Kinder zu sich ruft und sie segnet,
wenn er Geschichten erzählt vom Reich Gottes
und vom Vater im Himmel, der seine Sonne aufgehen gehen lässt
über alle Menschen dieser Welt.
Als die Menschen über Jesus das Todesurteil sprechen,
treffen die tödlichen Pfeile Gott selbst wieder mitten ins Herz.
Inmitten aller menschlichen Bosheit, erkennen wir den Gott,
der sein Versprechen hält und an den Friedensbund denkt,
den er in die Wolken gesetzt hat:
Nicht Tod sondern Leben
Nicht Rache sondern Versöhnung ist sein neuer Weg.
Damit wir heraustreten können aus der Arche ins Freie, ins Leben.
„Gott gab uns Atem, damit wir leben“ - auch heute wieder
„Wir können neu ins Leben gehn“
Amen
Lied EG 432: Gott, gab uns Atem
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Literatur:
Hans Martin Müller, Auslegung zu 1. Mose 8,18-22 in Calwer Predigthilfen, Reihe III/2, 1993, S. 200-207
Ute Grümbel, Auslegung zu 1. Mose 8,18-22 in Calwer Predigthilfen Reihe III/2 1998/99 S. 182-189
Peter Silber, Überflutet und Gerettet, Die Sintflut, Genesis 6,5-9,17 in: Bibelarbeit in der Gemeinde Band 5, Urgeschichten, Ökumenischer Arbeitskreis für Bibelarbeit, F. Reinhardt Verlag, Benziger Verlag, 1985, S. 139-177
André Flury, Sintflut - Oder die Veränderung des Gottesbildes, in: Glaubenssache-online
https://www.glaubenssache-online.ch/2018/07/11/sintflut-oder-die-veraenderung-des-gottesbildes/