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Erwählt

 

Predigt zu 5. Mose 7,6-12 (Gottesdienst mit Taufe am 6. Sonntag nach Trinitatis 2017)

Liebe Gemeinde,

 

 

Der PT für den heutigen Sonntag steht im 5. Buch Mose.

 

Die Menschen stehen an der Schwelle zum Gelobten Land.

 

Mose, der große Anführer, der das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten

in die Freiheit geführt hat, hält den Menschen eine eindringliche Predigt.

 

Noch Jahrhunderte später, als die biblischen Schriftsteller

die vielen Erzählstränge sammelten und zusammenstellten

werden die Menschen wieder zurückversetzt in diese Zeit

und an die Anfänge ihres Glaubens erinnert. 

 

Ich lese 5. Mose 7,6-12

 

Mose predigt den Israeliten:

 

6 Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. 7 Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, 8 sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. 9 So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, 10 und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. 11 So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.

12 Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.

(Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Auflage 1984)

 

I

 

Inmitten der Großen steht Israel, 

das kleinste Volk, das damals bekannt war.

 

Sie wurden herausgeführt aus der Sklaverei in Ägypten

und zogen in das Gelobte Land.

Aber es floss nicht nur Milch und Honig im neuen Land.

Es floss auch Blut.

 

Wahnwitzige Entscheidungen und ein aufgeblähtes Ego 

der Könige führten zum Fiasko.

Sie verloren dieses Land wieder

sie verloren ihre Heimat, ihren Tempel

und lebten in der Verbannung.

Als sie zurückkehren können, 

stehen sie wieder vor dem Nichts.

so wie damals in der Wüste.

Noch ist das gelobte Land nicht erreicht.

 

Harte und bittere Erfahrungen liegen hinter ihnen

und liegen vor ihnen in ihrer Geschichte.

 

Es gibt Lebenswege, die lassen sich nicht erklären,

die gehen nicht auf. Da reiben wir uns auf am unbegreiflichen Gott.

 

Was gibt ihnen Kraft, 

mit solchen Erfahrungen fertig zu werden ?

 

Im jüdischen Kalender ist der 9. Tag des Monats Aw ein Gedenktag:

Die Juden gedenken an die Zerstörung ihres ersten und zweiten Tempels.

Sie gedenken der Kreuzzüge, der Vertreibungen

und in einigen Gemeinden auch der Schoah,

der Verfolgung und Ermordung der Juden unter dem Nationalsozialismus.

Am darauffolgenden Sabbat hören sie die Worte aus unserem Predigttext.

 

Auf dem Hintergrund ihrer Geschichte

bekommen diese Worte unseres Texts einen ganz besonderen Klang.

Wie ein Anker, der sich festgräbt,

wo eben noch die ganze Existenz zu verschwimmen drohte,

wo eben noch ein Volk dabei war, sich aufzulösen.

„Du bist ein geheiligtes Volk. Dich hat der Ewige, dein Gott, erwählt.

Du bist sein Eigentum, wörtlich: Du bist sein Schatz, den er liebt.

 

Wohlwissend:

Wir selbst sind doch das schwächste Glied in dieser Liebe

und fallen immer wieder aus dieser Beziehung heraus, 

klammern sie sich an diese Zusagen.

 

So wie er sich ihrer erbarmt und aus der Sklaverei

in Ägypten geführt hat, so wird er sich wieder erbarmen.

Es wird eine Zeit geben, in der sie nicht mehr 

von Feinden umgeben sein werden, 

weil Gottes Treue zu ihnen immer stärker sein wird.

 

Große Völker waren es damals,

die Ägypter, die Kanaanäer, die Assyrer, die Babylonier, die Perser, die Römer

und Israel, das Kleinste mittendrin.

Gott wählt und das Kleinste Volk besteht noch immer.

Gott wählt und das Kleinste übersteht im 20. Jh. eine Geschichte,

die sie eigentlich nicht hätten überstehen dürfen.

 

II

 

Im Zusammenhang des gesamten Kapitels bekommt dieser so tröstliche Text

jedoch auch einen höchst provokativen und aggressiven Klang, 

der uns gewaltig aufstößt, weil er besondere Brisanz hat.

Weil ihr heilig seid, weil ihr erwählt seid, weil ihr Gottes Schatz seid,

deshalb - so wird ihnen gesagt -

lasst euch auf keinerlei religiöse Toleranz 

mit den Bewohnern des Landes ein. 

 

"Mache keinen Bund mit ihnen und lass ihnen keine Gnade widerfahren“.

„Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinmale zerbrechen“

so lesen wir unmittelbar vor unserem Predigttext.

„Du sollst sie nicht schonen … und ihren Göttern nicht dienen“,

so lesen wir es danach.

 

Das klingt aktuell. 

Das könnte man heute auch so ähnlich 

von politischen Extremisten oder religiösen Fundamentalisten hören.

Endlich einmal erwählt sein inmitten der Großen.

Das ist der Traum vieler Kleinen.

Nur wir sind heilig. Nur wir sind auserwählt. 

Die anderen nicht. 

 

Sozialer Sprengstoff entzündet sich am Missbrauch 

solcher Texte nicht nur im Islam,

wenn sie wörtlich übernommen werden.

 

Misstrauen. Intoleranz. Gewalt. Fanatismus.

Religiöse und politische Ideologien blühen bis heute,

Ängste vor einem unberechenbaren und grausamen Gott.

Da gibt es keinen Raum für anderes Denken.

Da gibt es keine Freiheit.

Da wird es eng und schwül, auch in den eigenen Reihen.

 

Wie fatal wird das, wenn die Texte herausgelöst werden

aus ihrem geschichtlichen Zusammenhang, 

in dem sie entstanden sind!

 

In diesem Kapitel wird - wie auch sonst in der Bibel -

ein Stück Glaubensgeschichte und Zeitgeschichte verarbeitet.

 

Die Bibel ist ein zutiefst menschliches Buch,

weil es die  Menschen zeigt mit all ihren Facetten,

wie sie ihre Erfahrungen und Ängste verarbeiten,

wie sie Worte finden für das was sie erlebt haben.

 

Wir hören, wie sie fluchen und beten,

wie sie Klagelieder und Lobpsalmen singen.

 

Wir werden hineingenommen in ihre Rachegedanken und ihre Gewaltphantasien.

Wir werden Zeuge, wie sie umgehen mit Scheitern und Schuld,

Wir nehmen teil an ihren Versuchen, ihre Identität und ihren Glauben zu finden.

 

Mittendrin auf dem langen Weg ihrer Geschichte, 

hören sie aber das Wort, an das sie und an das wir heute anknüpfen können:

„So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, 

der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit 

bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten“

Der treue Gott. Bis ins 1000. Glied. Unendlich. Für immer.

Das kämpfen sie durch mit ihrer gesamten Existenz.

 

 

III

 

Wir stehen heute nicht östlich des Jordans in antiken Verhältnissen, 

umgeben von den Kulten der Kanaanäer.

 

Und doch - Götter gibt es so viele wie es Menschen gibt.

Das Unheimliche daran ist,

dass selbst die guten Dinge, die uns am Herzen liegen,

sich in ihr Gegenteil verkehren können,

wenn die Liebe zu einem Menschen zu Besitzansprüchen führt am andern

anstatt zur Erfüllung einer gegenseitigen Beziehung,

wenn der Leistungsanspruch uns krank macht 

und bereits Kinder an den Schulen in diesen Sog hineingeraten,

wenn der Kampf um Gerechtigkeit umschlägt in Rache und Vergeltung 

Wenn Genussmittel zur Droge werden, 

die uns zerstören anstatt Freude zu schenken.

Und nicht zuletzt -  wenn Menschen ihre Macht missbrauchen

und sich so aufspielen, als seien sie Gott.

 

Noch immer sind Menschen auf der Suche nach dem Gelobten Land 

und haben Sehnsucht nach Freiheit und Frieden.

 

„Da folgt ein Tiefpunkt nach dem andern“

sagte die Nachrichtensprecherin angesichts der Verhaftung 

der Menschenrechtsaktivisten in der Türkei.

 

Immer neu stehen wir vor der Frage:

Wie finden wir den Weg in unser Gelobtes Land, 

in dem wir in Frieden leben können?

 

Diese Rede von der Erwählung ist eindringlich verknüpft 

mit der Mahnung, auf Gottes Weisungen und Gebote zu hören.

„So halte nun die Gebote … dass du danach tust.“

 

Die Gebote Gottes wollen Menschen vor innerer und äußerer Unfreiheit bewahren.

 

Wenn Gott das Kleinste der Völker erwähltund aus der Knechtschaft befreit,

signalisiert er uns damit:

Ich bin ein Gott, der nicht will, dass Menschen

unter die Räder kommen sondern dass ihre Würde geschützt bleibt.

 

Die Gebote sind wie ein Geländer, das uns bewahren will,

eine Grenze zu überschreiten.

Auch unser Grundgesetz baut darauf auf.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

 

Erwählung und Verantwortung für unsere Welt gehören zusammen.

Auch im Weltlichen ist das so.

Wer für eine bestimmte Aufgabe ausgewählt wurde,

der trägt auch Verantwortung, jeder an seinem Platz. 

Jede hat andere Fähigkeiten, die sie einbringt.

 

Und seien Menschen noch so professionell und herausragend in ihrem Beruf,

soll das nicht dazu führen, dass sie ihre Macht missbrauchen.

 

Doch auch das beste Gebot kann missbraucht werden.

Menschen können sich auch abschotten und verbarrikadieren 

hinter Geboten und Vorschriften, weltlichen und religiösen.

 

Es entsteht formaler Bürokratismus und geistlose Gesetzlichkeit.

Wieviel Unsinn im harmlosesten Fall wurde dadurch schon angerichtet.

 

Die Liebe aber bringt Geist und Leben hinein

in die guten Gebote Gottes und zeigt uns ihre Anwendung im Sinne des Menschen.

 

Bereits in diesem alten Text klingt auf:

Wenn Gott erwählt, ist das kein Grund sich über andere zu erheben.

 

Nicht, weil du größer bist, hat dich Gott erwählt

- im Gegenteil du das kleinste unter den Völkern -

 

Nicht weil du besser bist oder etwas vorzuweisen hast, 

was andere nicht haben, bist du heilig

Gott hat dich erwählt, weil er dich liebt, grundlos, bedingungslos.

Weil er dich liebt, deshalb bist du etwas Besonderes:

Du bist sein Schatz.

Er hängt an dir.

Und wer sich an Menschen vergreift, 

die Gott doch liebt, vergreift sich an Gott selbst.

 

Man könnte fast sagen das „Kindchenschema“ hat durchgeschlagen bei Gott.

Das Kleine, das Hilflose nimmt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, 

weckt Beschützerinstinkte, so wie jetzt,

wenn wir auf unseren Täufling blicken, die kleine L.

Wir möchten doch nichts so sehr, als dass so ein kleiner Mensch beschützt 

und bewahrt in ein selbständiges Leben hineinwachsen kann.

 

 

IV

 

Wenn wir heute als Christinnen und Christen an unsere Taufe erinnert werden,

dann wird uns gesagt:

 

Gott hat wieder gewählt: 

 

Die Erwählungsgeschichte geht weiter.

 

Immer wählt er anders als gedacht.

Er wählt Maria, eine junge unbedeutende Frau und das kleine Kind im Stall.

 

Er wählt den Juden Jesus von Nazareth

und dieser zeigt uns wie kein anderer,

was das bedeutet, erwählt zu sein.

 

Er zeigt, wie es geht, Gottes Gebote zu halten

und findet scharfe Worte, wenn man ihn mundtot machen will:

Das Gebot ist für den Menschen da und nicht umgekehrt.

 

Er nimmt alle Menschen hinein in diese Liebe Gottes:

die Kleinen und die Großen, die Schwachen und die Starken.

Keiner bleibt übrig.

 

Heute sagt er zu der kleinen L. :

„Du bist heilig, weil du zu deinem Gott gehörst.

Keiner darf sich an dir vergreifen“.

„Du bist erwählt, nicht weil du schon groß und stark bist

und alles verstehen kannst, sondern weil du geliebt bist.“

 

Bedingungslose Liebe macht uns wieder groß und stark,

gerade dann, wenn wir uns ganz klein fühlen, 

weil wir mit Enttäuschungen fertig werden müssen

oder wenn wir versagt haben und uns die Fäden des Lebens entgleiten.

 

Welch ein Startkapital ist das, 

wenn ein Kind gesagt bekommt von seinen Eltern:

Unsere Tür steht immer offen für dich, 

egal was für Dummheiten du gemacht hast.

 

Inmitten aller menschlichen Verstrickungen ist uns gesagt:

Gott hat dich zum Leben erwählt, 

gerade in Zeiten der Angst und der Mutlosigkeit und des Versagens.

Daran können wir anknüpfen immer wieder.

Gott hängt an uns mit seiner Liebe. Unendlich lange. Immer.

 

Amen

_______

Literatur:

Annette Mirjam Böckler, 5. Mose 7,6-12: Noblesse oblige,  Junge Kirche 66 (2005), 58-61.

Andreas Krebs, Wählerlische Liebe, Göttinger Predigtmeditationen 71, 351-355,  2017

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