top of page

 

Israelsonntag 2021

Predigt zu 2. Mose 19,1-6

 

 

 

I

 

Liebe Gemeinde,

In diesem Jahr erinnern wir uns 

an mindestens 1700 Jahre jüdisches Leben bei uns in Deutschland.

 

Es gibt aus dem Jahre 321 ein Edikt aus Köln, 

in dem der römische Kaiser Konstantin festlegt,

dass Juden städtische Ämter bekleiden dürfen.

Dies ist das älteste schriftliche Dokument, 

das jüdisches Leben in Deutschland belegt.

Bundesweit werden dazu rund 1000 verschiedene Veranstaltungen ausgerichtet,

die dazu dienen, über das Judentum zu informieren 

und dem zunehmenden Antisemitismus in unserem Land etwas entgegenzusetzen.

 

Unser Israelsonntag hat leider aber auch eine dunkle Vorgeschichte,

denn  es ist eine furchtbare Tatsache, 

dass Antijudaismus tief in der christlichen Lehre verankert war 

und manchmal noch immer ist.

Eine Geschichte voller Irrtum und Schuld

führte zum tiefen Bruch zwischen Juden und Christen.

 

Das gewalttätige Alte Testament und das liebevolle Neue Testament,

der Rachegott der Juden und der liebende Vater der Christen, 

der Gott des Gesetzes und der Gott der Freiheit und Erlösung

wurden in pauschaler  Weise schroff einander gegenüber gestellt

und in abwertender und diffamierender gegenüber dem Judentum missbraucht,

so als hätten wir es mit zwei verschiedenen Göttern zu tun.

 

In den Kirchen wurde gepredigt, dass Israel von Gott verworfen sei.

Er habe seinen Bund mit Israel aufgelöst 

und seine Erwählung sei auf die Kirche übergegangen.

Die eigenen Wurzeln im Judentum wurden dabei völlig ausgeblendet.

Im Laufe ihrer Geschichte wurden Jüdinnen und Juden immer wieder

beschimpft, verfolgt, in Ghettos gedrängt. 

Ihr unsägliches Leid gipfelte in der Deportation und Ermordung

während des Dritten Reichs.

 

Erst nach dem 2. Weltkrieg  begann allmählich ein christlicher Lernprozess.

In den 60er Jahren bekannten die Kirchen die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk

und ihre eigene enge Verbundenheit mit dem Judentum.

 

Als Christinnen und Christen schöpfen wir

aus einer reichhaltigen jüdischen Tradition,

denken wir an viele Texte und Geschichten aus der hebräischen Bibel,

die auch uns vertraut und wichtig sind:

 

  • etwa an die Schöpfungsgeschichten, die schon auf den ersten Seiten der Bibel             unser  Leben in Beziehung sehen zu Gott, der nach uns sucht und fragt und uns in die Verantwortung  ruft für unsere Welt

  • oder an die Geschichten von Abraham, Isaak, Jakob, Josef,                                              die uns einen Gott vor Augen malen, der seinen Menschen die Treue hält                      auch inmitten von Scheitern und Schuld              

  • Wir denken an die trostvollen Worte vieler Psalmen,                                                          die in unseren Gottesdiensten gebetet werden                                                                  Sie ermutigen uns, unser Herz vor Gott zu öffnen                                                                und ihm unseren Dank, unsere Bitten, aber auch unsere Klagen zu bringen

  • Wir denken an die mahnenden Worte der Propheten, die an die Weisungen Gottes erinnern,  wie wir sie aus den 10 Geboten kennen, die noch heute Grundlage unserer Gesellschaft sein wollen.

 

Der Predigttext für den heutigen Israelsonntag steht in 2. Mose 19,1-6.

Er ist ein Herzstück jüdischen Glaubens

 

191Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, an diesem Tag kamen sie in die Wüste Sinai. 2Sie brachen auf von Refidim und kamen in die Wüste Sinai, und Israel lagerte sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. 3Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: 4Ihr habt gesehen, was ich an den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. 5Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 

6Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.

(Übersetzung: Nach Martin Luther, revidierte Ausgabe 2017)

 

II

Wir sind als Hörende heute auf dem Weg mit Israel durch die Wüste.

 

Schon drei Monate sind sie auf der Flucht.

Noch immer erreichen sie nicht das Gelobte Land.

Sie finden sich stattdessen in der nächsten Wüste wieder.

Eigentlich müsste sich die Spur dieser entlaufenen Sklaven im Sande verlieren.

Sie sind frei, aber ohne Staat, ohne Land, ohne Rechte.

Niemanden interessiert es, wenn sie nicht mehr aus der Wüste zurückkehren.

Vorher waren sie niemand, jetzt sind sie niemand.

Doch schützende Flügel haben sich über sie gebreitet. (1)

 

In der Wüste, im Niemandsland hören sie die Stimme, die ihnen sagt:

Ihr seid nicht verloren.

Ihr seid keine Niemande.

Ihr gehört mir.

Alles, ihr und dieser Berg und diese Wüste und das Niemandsland

und alle Völker und die ganze Erde sind mein. (2)

 

Gott schließt seinen Bund mit entlaufenen Sklaven.

Israel wird in der Wüste geboren, mitten auf der Flucht.

 

Bei jedem Sedermahl am Pessachfest erinnern sie sich an diese Geschichte:

das elende Sklavendasein in Ägypten, der grausame Pharao, die traumatische Flucht.

Dabei gibt es auch den Brauch, 

bei der Nennung jeder der zehn Plagen, die über die Ägypter gekommen sind, 

einige Tropfen Wein zu verspritzen

als Ausdruck der Trauer über die Not, die die Ägypter erlitten haben. 

So wird das Bewusstsein dafür wachgehalten, 

dass die Befreiung aus der Knechtschaft einen hohen Preis gekostet hat.

 

Wie oft geschieht das so bis heute:

Freiheit wird mit Blutvergießen bezahlt

und bedeutet auch großes Leid für Unschuldige.

 

III

1949 - Deutschland liegt noch am Boden, die Welt trauerte um Millionen Tote -

da wird der Staat der Israel gegründet.

„On eagle wings“ - „Auf Adlerflügeln“ so heißt eine Aktion aus dieser Zeit.

Fast 50.000 jemenitische Juden werden auf 180 Flügen

mit britischen und amerikanischen Transportflugzeugen nach Israel geflogen,

weil sie im Jemen keine Zukunft mehr hatten.

 

Einige Juden lebten schon vorher auf diesem Fleckchen Erde.

Einige brachen auf aus anderen Ländern und brachten ihre Hoffnungen mit.

Einige waren in letzter der Not der Vernichtung aus Deutschland entkommen.

Vielleicht fragten sie sich:

Warum haben gerade wir überlebt?

Warum nicht auch unsere Mütter, unsere Väter, unsere Kinder, unsere Freunde,

unsere Verwandten.

Eine Antwort gibt es nicht auf solche Fragen.

Eigentlich hätten sie nicht überleben dürfen.

Aber nun gibt es dieses winzige Land für sie.

Es besteht bis heute.

 

Und es gibt diese Worte, die sie noch immer hören:

Ihr seid mein Eigentum.

Auf Adlerflügeln getragen.

Zu mir gebracht. (3)

 

Dieser Glaube bewahrt ihre Identität von den Anfängen bis heute.

Er wurde durch jahrhundertelange Verfolgungen geprägt.

Feste Rituale und Feste gaben Halt und Stabilität.

 

Es gibt berührende jüdische Glaubenszeugnisse.

Hier glauben Menschen an Gott, nicht weil er ihnen hilft,

sondern obwohl er ihnen nicht hilft.

Hier glauben Menschen Gott zum Trotz.

 

Bekannt ist die Inschrift eines unbekannten Verfassers aus dem Warschauer Ghetto,

die auch in unserem Gesangbuch abgedruckt ist:

„Ich glaube an die  Sonne, auch wenn sie nicht scheint.

Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre.

Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.“

 

IV

 

In einer Geschichte, in der das Schwere und Bittere nicht verdrängt werden muss,

in der ich meine Wüstenerfahrungen als Klagen zum Himmel schreien darf,

kann ich auch die Schwingen des Adlers erkennen lernen, die mich getragen haben 

und die Stimme hören, die mir sagt:

Dein Weg endet nicht in dieser Wüste

Er geht weiter.

Du bekommst eine Aufgabe.

Du hast einen wichtigen Auftrag.

 

„Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, 

so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. 

Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“,

so der Auftrag an die Erwählten.

 

Die beschützten Adlerjungen sollen selbständig fliegen lernen

Die bewahrten Menschen sollen selbständig hören und glauben lernen.

 

Wer für eine bestimmt Aufgabe ausgewählt wurde,

trägt auch eine besondere Verantwortung,

jeder und jede an seinem und ihrem Platz.

 

Das ganze Leben in all seinen Bezügen, im Alltag, in der Freizeit,

im menschlichen Miteinander soll Zeugnis geben für diesen Gott.

Am Halten seiner Gebote sollen andere Menschen erkennen, wie Gott ist.

 

„Höre Israel“ - so beginnt das jüdische Glaubensbekenntnis

Höre, du Mensch.

Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen…

und deinen Nächsten wie dich selbst,

sagt Jesus jenem Schriftgelehrten, der ihn nach dem höchsten Gebot fragt.

Wir haben die Lesung im Evangelium vorhin gehört.

 

Nur das Tun dessen, was er uns sagt, kann Hoffnung bringen für unsere ganze Erde.

Nur die Hinkehr zu Güte und Gerechtigkeit lässt uns spüren, was wir sind:

Sein Eigentum, mit jeder Faser unseres Wesens auf ihn bezogen. (4)

 

„Sein Eigentum“ - Keine neue Sklaverei ist das, sondern neue Freiheit

 

Das Wort für Eigentum kann auch mit „Schatz“ übersetzt werden.

Ich bin Gottes Schatz, den er liebt.

Niemand darf sich an mir vergreifen.

Das gibt mir Halt und Stabilität und Würde

 

Kein Grund für Hochmut.

Kein Grund für Neid

 

Denn ich bin eben nicht Gottes einziger Schatz.

Gott hat viele Schätze. 

Es gibt keine Niemande.

 

Die ganze Erde ist sein

Niemand darf sich an ihr vergreifen und sie ausbeuten.

Niemand darf die Würde anderer Menschen verletzen,

sie ausnützen, ihnen Gewalt antun, sie missbrauchen, 

unterdrücken, versklaven, ihnen Lebensrechte entziehen.

Gott hat Israel aus der Sklaverei befreit und setzt damit ein Zeichen,

lässt seinen Willen hören.

 

Wenn Gott  aber dieses eine Volk als sein Eigentum wählt 

und in die Beziehung zu ihm ruft, dann ist das kein Ausnahmeverhältnis 

sondern der Wiederbeginn des normalen Verhältnisses. 

Diese Geschichte soll weitergehen.

Die ganze Erde ist in die Beziehung zu ihm gerufen. (5)

 

 

Der Israelsonntag erinnert an das Versprechen Gottes mitten in der Wüste.

Unser Glaube ist aus dieser Wurzel gewachsen.

 

Denn irgendwo in einem Dorf in der Provinz,

wird ein Junge geboren mit jüdischen Eltern,

Jesus wird er genannt.

Mit knapper Not entgeht er der Gewalt und der Willkür

des grausamen Herodes.

Hals über Kopf flüchtet die junge Familie vor der Verfolgung.

Im fremden Land sind sie niemand,

haben kein Haus, keinen Ort, keine Papiere; 

aber das Kind ist in Sicherheit, bis sie wieder zurückkehren können.

Der Junge wird größer, hört samstags in der Synagoge 

von der Befreiung durch den rettenden Gott. 

Er setzt sich mit vielen Menschen an einen Tisch, 

teilt mit ihnen das Brot und hört ihnen zu. 

Er heilt mit seinen Händen und seinen Worten.

Er feiert Passa und die anderen jüdischen Feste. 

Wie kein anderer lehrt und lebt er die Worte seines Gotts.

Er setzt sich der Gewalt der Mächtigen aus und stirbt am Ende daran

mit einem Bekenntnis zu dem Gott, der ihn verlassen hat.

 

Auch seine Spur verläuft sich nicht im Sand.

Seine Spur zieht sich durch Völker und Nationen. (6)

 

Schützende Flügel haben sich über ihn gebreitet.

„Du gehörst mir im Leben und im Tod“ 

Du sollst leben.

 

Seine Geschichte ist nicht zu Ende.

Sie geht weiter.

Durch ihn öffnet sich der Bund Gottes für alle Völker.

Wie konnten Menschen deshalb jemals glauben, 

dass Gott  seine Erwählung zurücknimmt und Israel verworfen hat?

Könnten wir als Christinnen und Christen 

dann überhaupt selber jemals Gewissheit und Trost und Vergebung finden?

Bliebe unser Glaube dann nicht ständig auf schwankendem Boden?

 

So aber vertrauen wir beide, Juden und Christen, auf die Treue Gottes,

der zu seinem Volk steht. Von dieser Treue leben wir alle.

 

Amen

 

 

Anmerkungen

(1)Der Abschnitt lehnt sich in Gedanken und Formulierungen an an:

Pfarrer Dr. Lukas Lorbeer, Predigt zum 10. So n. Trinitatis (08. August 20201 in: Calwer Predigten online  

https://www.calwer-stiftung.com/calwer-predigten-online.365730.202264.htm

(2) Ebd.

(3) Ebd.

(4) Formuliert nach einem Zitat von Samson R. Hirsch, Der Pentateuch in: Gabriele Zander, 10. Sonntag n. Trinitatis: Ex 19,1-6, The Dignity of Difference in: Plus Preditmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, Sonderdruck zum Reformationsjahr 2017

(5) Ebd.

(6) Formulierungen und Gedanken aus: Dr. Lukas Lorbeer, Predigt zum 10. So n. Trinitatis (s. o.)

 

Literatur

*Israelsonntag 2021, Glücklich das Volk, das Gott die Lebendige zu ihrem Erbe erwählt

Predigthilfe und Materialien für die Gemeinde, Aktion Sühnezeichen Friedensdienste

*https://bcj.de/media/Arbeitshilfen/Arbeitshilfe_Israelsonntag_2005.pdf

*https://www.ag-juden-christen.de/antisemitismuskritik-in-kirche-und-theologie-heute/

bottom of page